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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


und wollte einen Schritt vorwärts thun, aber sie wankte und wäre gesunken, wenn ihr Neffe sie nicht gestützt hätte.

„Unmöglich, Tante, das erträgst Du nicht. Ueberdies sind die sämmtlichen Schlitten hinaus zur Jagd; es ist kein einziger mehr verfügbar, und mit dem Wagen kommen wir im Schnee nicht vorwärts. Ich werfe mich auf's Pferd und jage nach – das ist die einzige Möglichkeit, die uns noch bleibt.“

Er wandte sich zu dem soeben eintretenden Eberhard.

„Lassen Sie den englischen Fuchs satteln! So schnell wie möglich; ich muß dem Grafen folgen.“

Der alte Diener ging in voller Eile. Er sah, daß es galt, eine Gefahr von seinem jungen Gebieter abzuwenden.

Oswald war wieder zu der Gräfin getreten, welche sich zitternd und todtenbleich an einem Sessel hielt, und suchte sie zu beruhigen.

„Fasse Dich! Noch ist nichts verloren. Der Fuchs ist einer der besten Renner, und wenn ich über Neuenfeld reite, so schneide ich fast ein Drittel des Weges ab. Ich muß Edmund erreichen.“

„Und wenn Du ihn erreichst!“ rief die Gräfin verzweifelnd. „Er wird Dich nicht hören, so wenig wie mich und seine Braut.“

„Mich wird er hören,“ sagte Oswald mit tiefem Ernste, „denn ich allein kann den unglückseligen Conflict lösen. Hätte ich heute Morgen gewußt, was zwischen uns lag – es wäre nicht dahin gekommen. Wir sind ja nicht umsonst Freunde gewesen von unserer frühesten Kindheit an; wir werden auch das überwinden. Muth, Tante! Ich bringe Dir Deinen Sohn zurück.“

Die energische Entschlossenheit des jungen Mannes verfehlte nicht ihren Einfluß auf die geängstigte Mutter. Sie klammerte sich an die Hoffnung, die er ihr gab, klammerte sich an den gefürchteten, gehaßten Oswald wie an einen letzten Rettungsanker. Sie war keines Wortes mächtig, aber der Blick, mit dem sie zu ihm aufsah, war so hülfeflehend, so herzzerreißend, daß Oswald tief erschüttert ihre Hand in die seinige schloß. In der Todesangst um den Einen, den sie beide mit der gleichen Innigkeit liebten, erlosch die jahrelang genährte Feindschaft, wurden Haß und Anklage begraben.

Oswald umfaßte die fast zusammenbrechende Frau und ließ sie sanft auf den Sessel niedergleiten; dann eilte er hinaus. Die Hoffnung, noch retten zu können, gab ihm Muth und Zuversicht, aber die Mutter, die thatenlos und verzweifelt zurückbleiben mußte, erlag fast der Angst. Sie wußte es ja, was es war, das ihren Sohn in den Tod jagte, und dieses Bewußtsein drückte das Siegel auf die Qual der letzten Wochen. Baron Heideck hatte Recht, die arme Frau wurde schwerer gestraft, als sie je gefehlt hatte. –

Eberhard hatte zur größten Eile getrieben. Das Pferd wurde bereits vorgeführt, als Oswald aus dem Schlosse trat; er schwang sich in den Sattel und jagte davon.

Es war mit Sicherheit anzunehmen, daß Edmund die freie Bahn der Landstraße gewählt hatte. Der bedeutend nähere Weg über Neuenfeld führte meist durch Wald und war so schmal und uneben, daß ein Schlitten ihn kaum passiren konnte. Für einen Reiter bot er keine Schwierigkeiten, und der Fuchs war in der That ein vorzüglicher Renner; seine Hufe berührten kaum den Boden, auf dem der Schnee dicht, aber doch nicht so hoch lag, daß er ein Hinderniß gewesen wäre. So ging es vorwärts, durch den in Frost und Eis starrenden Wald, über schneebedeckte Wiesen, durch ein Dorf, das wie ausgestorben in seiner Winterhülle dalag, vorwärts wie im Fluge, und doch immer noch zu langsam für die Ungeduld des Reiters.

Oswald zweifelte keinen Augenblick, daß es hier galt, eine Verzweiflungsthat zu hindern. Es mußte noch ein Mittel geben, diesen unglückseligen Conflict zu lösen. Wenn Oswald nicht anklagte und Rechenschaft forderte, so hatte Niemand ein Recht, das zu thun. Man konnte ja vor der Welt schweigen wie bisher und das Geheimniß begraben sein lassen. Die Beiden, die es zunächst anging, konnten sich die Hände reichen und sich geloben, daß das Haus Ettersberg hinfort zwei Söhne haben solle – und mitten hinein in all diese Hoffnungen und Entwürfe klang immer wieder die Erinnerung an jenes Gespräch am Abende vor der Abreise Oswald's, klangen ihm Edmund's Worte: „Ich könnte nicht leben mit dem Bewußtsein, daß ich einen Makel mit mir herumtrage. Ich muß mit freier Stirn dastehen können vor der Welt und vor mir selber.“

Der Weg mündete jetzt in die Landstraße, wo sich ein freier Ausblick bot. Oswald hielt einen Augenblick sein Pferd an und spähte suchend umher, aber vergebens. Er sah nichts, als die weite weiße Fläche, in einiger Entfernung die dunklen Tannen des Hirschberges und weiter hinaus den grauen Nebel des trüb verschleierten Wintertages. Ringsum war alles öde, kein lebendes Wesen zu erblicken. Die Hoffnung, Edmund den Weg abzuschneiden, erwies sich als trügerisch. Er mußte schon voraus sein, weit voraus – die Spur seines Schlittens zeigte sich deutlich in dem frischen Schnee. Jetzt zum ersten Mal drohte Oswald's Zuversicht zu schwinden, aber er wollte nicht hören, was die schlimme Ahnungen ihm zuflüsterten, sondern gab seinem Roß die Zügel und jagte weiter, bis er am Fuße des Hirschberges anlangte und der ansteigende Weg dem Galopp ein Ziel setzte.

Der nicht allzu hohe, aber sehr steile Hirschberg galt für einen sehr unbequemen Uebergang und wurde gern vermieden. Er war überhaupt nur mit Vorsicht zu passiren; man mußte den Wagen vollständig in der Gewalt haben und der Pferde sicher sein, wenn man diesen Weg wählen wollte. In solcher Jahreszeit vollends waren die eis- und schneebedeckten Abhänge geradezu gefährlich; das erfuhr auch Oswald, der mehr als einmal sein Pferd vor dem Stürzen bewahren mußte. Zum Glück war er ein ebenso geschickter, wie besonnener Reiter, und das kam ihm hier zu Statten, aber mit jeder Minute, die verrann, mit jeder Windung des Weges, die sich vor ihm aufthat, ohne den Gesuchten zu zeigen, wuchs seine Angst. Er trieb das Roß mit Peitsche und Sporen vorwärts, ohne sich und ihm einen Moment Ruhe zu gönnen. Alles Andere trat zurück vor dem einen Gedanken: „Ich muß ihn erreichen!“

Und er erreichte ihn. Das Pferd gewann jetzt schnaubend die Höhe und trabte einige Minuten lang auf ebenem Boden dahin. Drüben senkte sich der Weg wieder steil abwärts. Noch war die Spur des Schlittens sichtbar, aber kaum hundert Schritt weiter, gerade an dem jähesten Abhange, war der Schnee aufgewühlt und zertreten, wie von bäumenden, stampfenden Rossen. Die niedrige Hecke, die den Weg säumte, war durchbrochen, zerrissen, die jungen Tannen am Abhange geknickt, als sei ein Sturmwind darüber hingefahren, und unten in der Tiefe lag eine dunkle, bewegungslose Masse – der Schlitten und die Pferde, zerschmettert im jähen, fürchterlichen Sturze.

Bei diesem Anblicke verließ auch Oswald die Besonnenheit. Er dachte nicht mehr an die eigene Gefahr, sondern jagte auf Leben und Tod den Weg hinunter. Unten angelangt, sprang er vom Pferde und drang in die Schlucht ein.

Der Schlitten lag in Trümmern, die Pferde auf und unter demselben, und einige Schritte davon – Edmund, regungslos auf dem Boden ausgestreckt. Er war im Sturze hinausgeschleudert worden; dies und der hier unten dicht und hoch liegende Schnee hatten ihn vor dem eigentlichen Zerschmettern bewahrt, aber der felsige Grund war trotz alledem verhängnißvoll geworden, das zeigte das Blut, das aus einer Wunde am Hinterkopf strömte und den weißen Schnee ringsum röthete.

Oswald hatte sich neben seinem Vetter auf die Kniee niedergeworfen und versuchte, das Blut zu stillen und den Bewußtlosen in's Leben zurückzurufen. Anfangs waren all seine Bemühungen vergebens. Endlich, nach langen, todesbangen Minuten schlug Edmund die Augen auf, aber der matte, umflorte Blick schien noch nichts zu erkennen. Erst bei dem Ton von Oswald's Stimme, bei dessen angstvollen Fragen kehrte langsam und allmählich das Bewußtsein zurück.

„Oswald!“ sagte er leise. Es war wieder der alte, innige Herzenston, den er stets für den Jugendfreund gehabt hatte. All die Bitterkeit, die wilde Erregung der letzten Stunden waren wie ausgelöscht in diese schmerzvollen, aber ruhigen Zügen.

„Edmund, warum hattest Du nicht Vertrauen zu mir?“ brach Oswald aus. „Warum mußte ich erst jetzt erfahren, was Dich in den Tod trieb? Ich bin Dir nachgejagt, aber ich kam zu spät, vielleicht nur um Minuten.“

Das schon halb verschleierte Auge Edmund's belebte sich und richtete sich fragend auf den Sprechenden.

„Du weißt –?“

„Alles!“

„Dann wirst Du es auch begreifen,“ sagte Edmund matt. „Daß ich auch Dir lügen mußte, daß ich Dein Auge nicht mehr

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