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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


und dem vornehmen Volksgarten, dem Rathhauspark mit seinen stark besuchten Kinderspielplätzen, dem majestätischen Augarten, endlich an dem Liechtenstein- und dem Schönbornpark. Auch die Plätze vor der Votivkirche, dem akademischen Gymnasium mit dem jüngst enthüllten Beethoven-Denkmal und dem Polytechnicum, endlich der Rudolphs-Platz – sie alle präsentiren sich als freundliche und einladende Gartenanlagen. Dazu ist die Stadtvertretung unablässig bemüht, Raum zu schaffen für neue Gärten im Innern der Stadt. Zwei ehedem kahle Plätze, der Börsen- und der Schlickplatz, sind allein in diesem Jahre mit dem jungen Lenze zu einer neuen schönen Blüthenexistenz erwacht – und trotz alledem und alledem ist es nach der Meinung des Wieners nicht möglich, den Sommer in Wien zu verbringen. So schafft sich der Reichthum seine Bedürfnisse. Ja, der Reichthum! Aber nicht der allein; denn in der That: all diese Gartenjuwele und die ganze imposante und freundliche Ringstraße, die auch nur eine prächtige Doppelallee ist – sie wollen nur wenig bedeuten im Vergleiche zu der wahrhaft einzig schönen Umgebung Wiens.

Hätt' man's nicht, so thät' man's nicht; und: läge Einem diese Umgebung in all ihrer berauschenden Schönheit nicht so dicht vor der Nase, man müßte dann eben auch ohne sie existiren können. So aber geht es absolut nicht; man kann unmöglich den Sommer über in Wien bleiben – und damit Basta!

Wenn im jungen Jahr der Schnee schmilzt und die ersten Grashalme neugierig die Spitzen hervorstrecken, dann beginnt die große Suche nach den Sommerwohnungen, und die Suche dauert fort bis tief in den Sommer hinein, bis Mitte Juli, wo die Schulferien beginnen. Viele Familien sind genöthigt, so lange in der Stadt zu verbleiben, weil die Schulbehörden für die Kinder keinen Dispens vom Schulbesuch ertheilen, es müßte denn sein, daß ein ärztliches Zeugniß producirt würde, welches die unumgängliche Nothwendigkeit der Luftveränderung für den Petenten bestätigt. Solche Zeugnisse sind wohl erfahrungsmäßig nicht allzu schwer zu erlangen; allein es verdient doch constatirt zu werden, daß die meisten Eltern einerseits es ehrlich wünschen, daß ihre Kinder etwas lernen, und andererseits schon aus pädagogischen Gründen Bedenken tragen, „falsches Zeugniß“ zu geben. Andere Eltern wieder schicken ihre Kinder mit dem Fiaker vom Lande herein in die Schule und lassen sie auf dieselbe Art abholen. Das ist nun freilich ein sehr kostspieliges Auskunftsmittel und daher auch nicht eben häufig. Häufiger dagegen ist es, daß die jungen Staatsbürger Eisenbahn, Omnibus und Tramway benützen, um zur Schule zu gelangen, und es ist nicht uninteressant, zu beobachten, mit welcher Sicherheit und Selbstständigkeit die bildungsbeflissene Jugend sich auf diesen kurzen Reisen bewegt, auf welchen sie hinreichend Gelegenheit hätte, die schönsten Confusionen anzurichten. Sie brauchte zu diesem Zwecke unter den zahllosen Wagen nur den unrichtigen zu besteigen.

Wiens Umgebung ist herrlich, das ist unbestritten, aber es ist auch nicht zu bestreiten, daß das Landleben für einen geplagten Wiener Familienvater seine zahlreichen und sehr bedenklichen Schattenseiten hat. Zunächst kommt der Kostenpunkt in Betracht; oft beträgt der Miethzins für die Landwohnung nicht weniger, als der für die Stadtwohnung; der Preis der ersteren ist natürlich sehr verschieden und hängt von der Größe, Ausstattung, Lage und nicht zum wenigsten von der Beschaffenheit des zu ihr gehörigen Gartens ab. Hat das Sprüchwort: „Zweimal ausziehen ist soviel wie einmal abbrennen“, Recht, dann brennt ein großer Theil der Wiener Familien jährlich einmal ab. Denn der Auszug auf's Land und die Rückkehr ist ein doppeltes Ausziehen unter erschwerenden Umständen. Wechselt man innerhalb der Stadt die Wohnung, so weiß man, daß der Möbelwagen über ein großstädtisch gepflegtes Pflaster zu fahren hat und daß er selbst im ungünstigsten Falle doch kaum mehr als eine Stunde unterwegs sein wird. Anders ist es aber, wenn er über Land geht. Da kann er, den Launen der Witterung ausgesetzt, auch einen halben Tag und noch mehr auf der Reise sein, ehe die mit ihrer heiklen Last naturgemäß nur bedächtig Schritt für Schritt dahintrollenden Pferde am Ziele anlangen. Und wenn sie dann angekommen sind, geht das große Jammern an; der sorgsamen Hausfrau blutet das Herz, und dem Manne regt sich die Galle. Vom schönen Salontisch oder dem werthgehaltenen Wäschkasten, dem Stolz der Hausfrau, ist die Politur weggewetzt; an dem Divan ist gerade in der Mitte das Tuch durchgerieben, und vom Kinderbett ist ein Fuß abgeschlagen. Das pflegt die Regel zu sein, gewissermaßen der feste Punkt, an welchen sich die übrigen kleineren und abwechselungsreicheren „Malheure“ Krystallen gleich ansetzen. Daß unter Gypsfiguren und Blumenstöcken Verheerungen angerichtet werden, das ist am Ende noch natürlich; daß aber unter den vorsichtshalber zwischen die Wäsche gepackten Glassachen es immer just die Oelflasche sein muß, die zerschlagen wird, das ist doch schon etwas wunderbarer. Und die volle Oelflasche muß mit; wer anderer Ansicht ist, mag's nur einer sparsamen Hausfrau sagen, wenn er die Courage hat. Auf dem Lande ist Alles theuer, es muß also von Allem ein großer Vorrath mitgenommen werden, und selbst wenn das nicht gethan wird – man kann doch die Reste der Vorräthe nicht in der leeren Stadtwohnung zurücklassen!

War der Wagen nicht gut gedeckt, so geschieht es wohl, daß die Strohsäcke, Matratzen und Polster vom Regen gründlich durchnäßt ankommen, was dann immer höchst erbarmungswürdig anzuschauen ist. Vielgestaltig, wie der Tod, ist auch das tückische Unglück, das bei jeder Straßenbiegung auf die Siebensachen eines armen in die Sommerfrische hinausziehenden Wieners lauert; doch da nützt keine Klage – es muß ja sein, und Jahr für Jahr zieht ja doch ganz Wien wieder hinaus.

Endlich verstummt der Jammer; der Aerger setzt sich; man richtet sich ein. Der Flieder duftet zu den Fenstern herein, die Luft ist so gut und so frisch, der Wald und die Berge grüßen vertraut herüber, das Grün ist so saftig – dafür kann man schon Manches in den Kauf nehmen; nur ist das manchmal recht, recht viel. Mit der Einrichtung beginnen auch die Mißhelligkeiten; man beginnt Dinge zu bemerken, auf welche man bei der Aufnahme der Wohnung nicht gerechnet hatte. Im Hause nebenan wohnt ein Schlosser, ein Klempner oder ein Faßbinder, und es wird den ganzen Tag gehämmert, daß Einem, wenn schon nicht Hören und Sehen, so doch gewiß das Hören vergeht. Noch ist Mama mit dem Auspacken beschäftigt, und schon kommt ein Kind schreiend hereingelaufen, weil es von den Kindern des bäuerlichen Gutsherrn durchgeprügelt worden ist. Merkwürdig: von diesen Kindern war auch nichts wahrzunehmen, als die Wohnung aufgenommen wurde. Freilich giebt es auch vornehme Hausherren, Villenbesitzer, die ihren Miethsparteien, wenn es gerade Differenzen giebt, nicht mit bäuerlicher Grobheit entgegenkommen; dafür nehmen hier die Differenzen numerisch zu. Diese Herren halten etwas auf ihre Gärten; sie dulden nicht, daß die Kinder der Parteien sich auf den Rasenplätzen tummeln; sie legen der Hausfrau Hindernisse in den Weg, wenn sie das Fest der großen Wäsche zu Hause feiern will, und sie erlauben unter keiner Bedingung, daß die herrliche Natur profanirt werde, indem man Wäsche im Garten zum Trocknen aufhängt.

Zu diesen Annehmlichkeiten kommen vielerlei andere. „Unsere biederen Landleute“ beweisen ihren Ruf auch in der Umgebung Wiens. Gemüse und alles Grünzeug, das sie berufsgemäß in die Stadt hinein auf den Markt führen, verkaufen sie ihren Sommerparteien entweder gar nicht, oder zu weit höheren Preisen, als sie in der Stadt dafür verlangen; so kommt es, daß alle an Ort und Stelle producirten Victualien theurer sind, als in der Stadt. Das ist absurd, aber es ist so, und man kann sich demgemäß das Lamento der malträtirten Wiener Hausfrauen denken. Aber auch alle Händler und Kaufleute, der Greisler, wie der Milchmann und der Fleischer, sie haben doppelte Tarife, einen billigen für die Eingeborenen und einen besonderen und besonders theueren für die Eingewanderten. Diese müssen es büßen, daß sie nicht auch im Winter da wohnen, indem sie dafür diese beträchtliche ausgleichende Steuer bezahlen.

Man wohnt im Allgemeinen in unbequemen, schlechteren, ja oft auch ungesünderen Wohnungen, als in der Stadt. Der Comfort, die Behaglichkeit, die Wohnlichkeit, die man zu Hause hat, ist auf dem Lande, wo man sich doch nur gleichsam ein Nomadenzelt aufschlägt, nicht zu erreichen. Die Zimmer sind weniger hoch und weniger luftig, als in den Stadthäusern, und dazu sehr häufig feucht, sodaß die Sommerfrische bei schlechtem Wetter, welches auf dem Lande doch noch etwas ganz Anderes bedeuten will, als in der Stadt, geradezu zu einer Poenitenz werden kann. Man ißt schlechter, man trinkt schlechter, man wohnt schlechter, man ist tausend Unannehmlichkeiten ausgesetzt – und man zieht doch auf's Land.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 492. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_492.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)