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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)

Jetzt beginnt auch die „Dogmatik“ Aufsehen zu machen. Die ersten Theologen der verschiedensten Richtungen fangen an, sich für den Verfasser zu interessiren, Angriffe erfolgen, aber achtungsvolle, sodaß sich Hase urplötzlich aus der Zahl der Demagogen in die der Theologen versetzt sieht. Die kirchliche Reaction im politischen Interesse war damals oben auf. In Preußen das Bestreben, eine Königskirche zu begründen, Gottesdienst und Königsdienst in einander verwoben; daher die Agende und die Union. Dem gegenüber in Sachsen, und nun auch (seit König Ludwig) im katholischen Baiern, wie im griechischen Rußland künstliche Wiedererweckung der alten Lutherkirche, zu der Klaus Harms schon 1817 aufgerufen hatte. Das Unerhörte, daß in Preußen das Wort „protestantische Kirche’“, in Baiern das Wort „evangelische Kirche“ verboten war, bezeichnet jene Zeit. Allen diesen Gegensätzen gemeinsam war der Abscheu vor dem Rationalismus. Wer damals Carriere machen wollte – und zahllose junge Theologen machten ihre demagogischen Sünden auf diese Weise vergessen – eiferte gegen den Rationalismus und ging auf seine Vernichtung um jeden Preis aus. „Die Larven kriechen aus,“ schrieb damals Schleiermacher; und in der That: bei dem entschiedenen Widerwillen Friedrich Wilhelm’s des Dritten, bei dem noch größeren Abscheu des Kronprinzen gegen den Rationalismus war es nur dem milden Cultusminister von Altenstein zu danken, daß man in Preußen nicht noch offener gegen die verpönte Richtung vorging. Aber schon stand die rationalistische Facultät in Halle in höchster Ungnade, schon wurde Tholuck hierher berufen, um das „wahre Christenthum“ zur Geltung zu bringen, schon begann Hengstenberg in Berlin die „Evangelische Kirchenzeitung“ (1822). Da mußte ein Werk, wie Hase’s „Dogmatik“, nach allen Seiten hin frappiren, ein Werk, welches der Vernunft ihr Recht wahrt, dabei die Berechtigung der Altgläubigkeit anerkennt wie kein rationalistisches Werk und hohe Toleranz athmet; nur das Frivole will Hase ausgeschlossen wissen von Kanzel und Lehrstuhl. So war er gerade für die Häupter der Rationalisten, die ihn sonst bekämpfen zu müssen meinten, der rechte Mann; denn ihre Tage auf den Kathedern, das wußten sie, waren gezählt; Hase aber trat, wenngleich in ihnen fremder Verhüllung, für ihr gutes Recht ein. „Sein System taugt den Teufel nichts,“ rief der Generalsuperintendent Röhr in Weimar aus, der schroffste aller Rationalisten, „aber nach Jena muß er doch!“

Aber auch die Gegenpartei machte Anstrengungen, den geistvollen Kopf für sich zu gewinnen. Tholuck, der Hase von Halle aus kennen gelernt, konnte ihm das Anerbieten machen, ihn unter günstigen Bedingungen nach Rom zu begleiten, wohin er selber sich auf ein Jahr als Gesandtschaftsprediger begab. Hase, ohne Mittel und ohne Aussichten, von Jugend auf die Sehnsucht nach Italien mit sich tragend, schwankte. Da aber erhob sich Tzschirner, der Unrath witterte, und riß ihn für immer aus jenen Umarmungen los. Er setzte durch, daß Hase in Leipzig als Privatdocent auftreten durfte; all die schamlosen Intriguen einzelner Professoren, zumal Beck’s, der nicht verwinden konnte, daß der „weggewiesene Student“ gegen einen ordentlichen Professor, wie Hahn, aufgetreten war, machte er zu Schanden. Schon hatte der Treffliche mit dem Tode zu ringen; das Treppensteigen ward ihm sauer; aber er ist zu sämmtlichen Senatoren die Treppen hinaufgestiegen, bis er Alle gewonnen hatte. Er starb, noch ehe Hase’s Habilitationsfeierlichkeit stattfinden konnte, seinem „Schätzchen“, wie er den jungen Freund gern nannte, die Anwartschaft auf die einstige Führung des Protestantismus hinterlassend. Es war eine glänzende Disputation, mit der Hase bald darauf in Leipzig sich habilitirte, und eine glänzende Zuhörerschaft, vor welcher der Verfasser der „Leipziger Disputation“ seine Lehrthätigkeit von Neuem begann. Zwar die Intriguen der vornehmen und frommen Kreise währten fort; aber Studenten, jüngere Docenten und vor Allem die Leipziger Bürger hielten um so fester an ihm. Als er vergebens bei einem Kürschner etwas von dem begehrten Preise eines Pelzes abzuhandeln sucht und seinen Namen nennt, wird ihm die Antwort: „Sie sind der Herr Magister Hase? Der gegen Hahn? Von Ihnen nehme ich keinen Profit. Das mich der Pelz gekostet, dafür haben Sie ihn auch.“

Mittlerweile war er, da er von der Feder leben mußte, mit eisernem Fleiße schriftstellerisch thätig gewesen. Drei Bände einer „Gnosis. Glaubenslehre für die Gebildeten“; die erste diplomatisch genaue Ausgabe der symbolischen Bücher der evangelischen Kirche, auf Zureden des ihm warm zugethanen Probstes und späteren Bischofs Neander Friedrich Wilhelm dem Dritten zugeeignet; eine kurze Zusammenstellung der altlutherischen Kirchenlehre des sechszehnten Jahrhunderts mit Hinzufügung der späteren Abweichungen unter dem Titel „Hutterus redivivus“, aus der klar hervorging, wie weltenweit verschieden die moderne Orthodoxie von jener der Väter der lutherischen Kirche war; endlich ein knappes „Leben Jesu“ – das Alles entstand bis 1829. Die Gestalt Christi erschien zwar in idealer Verklärung, aber doch so menschlich gezeichnet, daß allen Ernstes der Frage ein Paragraph gewidmet wird: warum der Herr nicht geheirathet habe? Und die Antwort lautet: „Weil er wahrscheinlich kein ebenbürtiges Herz fand.“

An eine akademische Beförderung Hase’s war unter dem Ministerium Einsiedel zunächst nicht zu denken; desto mehr wünschten ihn die Häupter des Rationalismus in Halle, Wegscheider und Gesenius, nach Kanzler Niemeyer’s Tode dorthin. Der berühmte Kanzler hatte Hase wohlgewollt, war, obschon hochbetagt, zu dessen Disputation nach Leipzig gekommen, selbst die alte Frau Kanzlerin hatte sich einen Augenblick auf der Gallerie gezeigt; um so erwünschter erschien die Berufung eines Mannes von so geistesverwandter Richtung zur Professur des Verewigten. Hase wird aufgefordert, sich direct in Berlin dem Minister von Altenstein und dessen Rathe Johannes Schulze vorzustellen. Er kommt zu spät, bereits ist Ullmann von Heidelberg nach Halle berufen worden; der Minister aber fragt ihn:

„Wollen Sie nicht hierher nach Berlin?“

Die Antwort ist ein freudiges: „Wie gern!“ In froher Hoffnung kehrt Hase von dieser Weihnachtsfahrt 1828 nach Leipzig zurück; auch Schleiermacher hat er kennen lernen und ist mit Auszeichnung von ihm aufgenommen worden; er hofft in Berlin schöne Tage zu erleben. Da kommt nach wenigen Wochen der Donnerschlag: der Polizeimeister von Kamptz, der Demagogenriecher, hat gegen seine Berufung ein Veto eingelegt. In Hoffnung auf dieselbe hatte er mit seinem Freunde Dr. Hermann Härtel, dem Mitbesitzer der Firma Breitkopf und Härtel, eine Reise nach Italien projectirt; nun giebt er sie auf. Allein der reiche Freund hält ihn fest; ob er ihm die Reisekosten in zehn, zwanzig, fünfzig Jahren oder am jüngsten Tage wieder erstatte, sei gleichgültig. Noch ehe die Freunde ziehen, ist Hase, der inzwischen mit einer unbesoldeten, außerordentlichen Professur der Philosophie bedacht worden, zu einer theologischen Professur in Jena durch Röhr berufen worden. Welcher Jubel! Und unmittelbar nach der Reise sollte noch ein Ruf nach Gießen kommen, sodaß die drei Universitäten, an die er beim Abschiede von Tübingen einst berufen zu werden hoffte, sich in der That früh genug gefunden haben.

So zieht er jetzt mit dem Freunde, an dessen jüngste Schwester ihn längst eine tiefe Neigung fesselt, in das Land seiner Jugendsehnsucht, nach Italien, und diese Reise wird der große Wendepunkt seines Lebens. Von Venedig und Genua bis Palermo sind sie all die herrlichen Städte des Wunderlandes durchpilgert, in Erinnerung seiner großen Vergangenheit, im Anschauen aller Denkmäler der Kunst, doch auch mit lebhaftem Genusse an Land und Leuten. Und wie einst Gibbon auf den Zinnen des Capitols, als er die ewige Stadt zu seinen Füßen liegen sah, den Gedanken faßte, der Geschichtschreiber ihres Verfalls zu werden, so begriff Hase, als er Vatican und Peterskirche und die übrigen Denkmäler des katholischen Rom sah, seine Aufgabe, einst der Kirchengeschichtschreiber des Zeitalters zu werden. Segen und Fluch, welche die katholische Kirche über die Völker gebracht, gingen ihm wie vor den Augen auf.

Ein Königreich von Ideen in sich tragend, verließ er das herrliche Land und den Freund, der dort zurückblieb, um die Schwestern zu erwarten; in Constanz traf Hase mit diesen zusammen, und Pauline Härtel sank als Braut in seine Arme. So kam er voll tiefen Glückes und froher Zuversicht über Stuttgart nach Leipzig zurück und begab sich von da nach Jena, um seine Professur anzutreten (Juni 1836).

Es gab in der That nur einen Fleck Erde in Deutschland, wo er damals, ohne sich selbst aufzugeben, unangefochten leben und wirken konnte, und das war Jena. Hier waren die Traditionen Karl August’s lebendig, Goethe noch Chef der Oberaufsicht für Wissenschaft und Kunst, und Röhr leitete die Landeskirche. Die Wellen der Juli-Revolution, die in Hase’s erste

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