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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


Dmitry todt und wie derselbe gestorben, der ganze Schwindel sofort erscheinen mußte – dadurch zu hemmen, daß er den Russen zu wissen that, der falsche Dmitry wäre eigentlich ein verlaufener Mönch, der als Söffer und Wüstling weithin verrufene Grischka (Gregor) Otrepiew. Diese Erklärung ließ der Zar durch eine Gesandtschaft auch dem König von Polen überbringen, mit dem Beisatze, daß der besagte lüderliche Mönch, welcher im Kloster zu Tschudow die Tonsur erhalten, im Jahre 1603 aus Russland nach Lithauen entwichen wäre. Dann ließ Boris durch seine Gesandten die Auslieferung des frechen Betrügers fordern. Allein die Minister Sigismunds, zweifelsohne mit im Komplott, wußten der angebrachten und wiederholten Auslieferungsforderung allerhand Ausflüchte entgegenzustellen, und so konnte das Spiel seinen Fortgang nehmen. Um so leichter und rascher, als die zarische Kundgebung inbetreff des Grischka Otrepiew in Russland keinen Glauben fand.

Begleitet und geleitet von zwei Jesuitenpatres begab sich der nachgemachte Zaréwitsch von Krakau nach Galizien, allwo sich auf den Gütern des Woiwoden Mniszek bereits abenteuerlustige Scharen polnischer Edelleute, natürlich so ziemlich lauter Sprösslinge der ungeheuer großen Familie Derer von Habe- und Taugenichts, zu einem kriegerischen Zuge gegen Moskau zu sammeln angefangen hatten. Mit dem Staatsgeschäfte, das man in majorem dei gloriam begonnen hatte, wußte man nun auch noch ein Familiengeschäft zu verbinden, mit dem utile das dulce. Nämlich Pan Mniszek, der Woiwode von Sendomir, hatte eine sehr schöne Tochter, die Panna Marina, und neben diesem sehr schönen Besitz hatte er auch den sehr hässlichen einer kolossalen Schuldenlast, wie das eben bei den polnischen Magnaten damaliger Zeit zum adeligen Stil und Ton gehörte. Aus dieser Voraussetzung ergab sich, wie die Sachen lagen, unschwer die logische Schlußfolgerung, daß am 25. Mai von 1604 der angebliche Sohn Iwans des Schrecklichen einen Vertrag unterzeichnete und beschwor, kraft dessen er sich verpflichtete, nach seiner mit dem Beistande von Mniszek und dessen Freunden zu erlangenden Inthronisirung auf dem russischen Zarenthron 1) Russland in den Schoß der alleinseligmachenden römischen Kirche zurückzubringen, 2) die schöne Marina Mniszek zu seiner zarischen Gemahlin zu erheben, 3) mit russischem Gelde die polnischen Schulden des lieben Herrn Schwiegervaters in spe zu bezahlen, 4) die russischen Fürstentümer Groß-Nowgorod und Pskow seiner geliebten Gemahlin in spe als erb- und eigenthümliche Besitzthümer zu überliefern, 5) dem künftigen Herrn Schwiegerpapa die Fürstenthümer Smolensk und Sewerien als erbliche Lehen zu verleihen, 6) etliche noch näher zu bezeichnende russische Landschaften an die Republik Polen abzutreten.

Daraus ist zu ersehen, daß man mit dem Felle des zu erlegenden russischen Bären sehr freigebig umging. Man traf aber auch zur Jagd auf denselben ernstliche Anstalten, deren Kosten zuvörderst die Firma Mniszek, Wiszniewiecki und Kompagnie aufzubringen hatte. Das ganze Geschäft war eine Art von Aktienschwindelunternehmen im Stile jener Zeit. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts thun sich „Konsortien“ zur Aufschwindelung von breit- und schmalspurigen Eisenbahnen oder von nationalen und internationalen Banken zusammen; damals, in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts schwindelten Jesuiten und polnische Magnaten, welche letztere mehr Schulden als Haare auf dem Kopfe hatten, mitsammen in Eroberungen von Land und Leuten. Es hat eben jede Zeit ihre eigene Manier, zu schwindeln, aber dem Wesen nach bleibt die menschliche Schwindelei allzeit dieselbe und wird es bleiben, so lange es Schwindler und Beschwindelte gibt, also bis an's Ende der Tage. Zweifelhaft ist nur, ob der letzte Mensch der letzte Betrüger oder aber der letzte Betrogene sein werde, und vielleicht hilft man sich aus diesem Dilemma am anständigsten heraus, indem man sagt, der letzte Mensch werde der letzte betrogene Betrüger sein.

Wo immer zur Zeit, von welcher hier gehandelt wird, in den Gränzbezirken zwischen Polen und Russland etwas los war, da strömten sofort ganze Scharen von Krapülenskis und Waschlappskis, will hier sagen von Habe- und Taugenichtsen, Vagabunden und Räubern zuhauf, um mitzuthun.

Die Werber, welche der Prätendent und seine Helfershelfer in die Gegend von Kiew, in die Ukraine, zu den saporogischen und don'schen Kosaken entsandten, hatten demnach leichtes Spiel.

So vermochte sich denn der nachgemachte Zaréwitsch schon am 15. August 1604 an der Spitze von 1500 Mann regelmäßiger polnischer Truppen, d. h. polnischer Schlachtschitzen (Edelleute oder auch Freibauern, Mitglieder der Schlachta, des niederen Adels in dessen ganzem Umfange), welche zu Pferde dienten und von Magnaten befehligt wurden, gegen die Ufer des Dnepr in Bewegung zu setzen, um den Krieg nach Russland zu tragen, während doch die Republik Polen und ihr König mit dem Zarenreiche im Frieden zu sein und zu bleiben behaupteten. In der Nähe von Kiew vereinigten sich andere Banden mit ihm, insbesondere tausende von Kosaken, die der verlaufene Mönch Grischka Otrepiew, welcher uns bei dieser Gelegenheit ganz bestimmt und deutlich als einer der Spießgesellen, Treiber und Werber des falschen Demetrius vorgeführt wird, angeworben, gesammelt und in Bewegung gesetzt hatte. Das kleine Heer, womit der Prätendent am 23. Oktober oberhalb Kiews über den Dnepr ging, um 8 Tage später bei Morawsk das russische Gebiet zu betreten, mochte etwa 15,000 Streiter und Mitläufer zählen. Den Kern bildeten die polnischen „Hussaren“, nicht zu verwechseln mit der späteren ursprünglich ungarischen leichten Reiterart der Husaren; denn jene polnischen Reiter waren recht eigentlich „schwere“, ganz wie die deutschen „Kyrisser“ zu Ausgang des 16. und zu Anfang des 17. Jahrhunderts. Sie ritten auf schweren Schlachthengsten, hatten Stahlhelme und Eisenpanzer, führten als Hauptwaffe die Lanze und trugen als eigenthümlichen Schmuck zwei Adler- oder Geierflügel, welche mittels silberner Haften auf ihren Schultern befestigt waren. Beim Betreten Russlands ließ der Prätendent ein Manifest ausgehen, worin er dem russischen Volke kundgab, daß er käme, um als der rechtmäßige, wunderbar gerettete Sohn Iwans sein Thronrecht gegen den Usurpator Boris geltend zu machen. Auch Pan Mniszek, der Woiwode von Sendomir, erließ ein Proklam, worin er erklärte, daß die polnischen Pane in diesem Dmitry den echten Zaréwitsch erkannt und darum beschlossen hätten, selbigem zur Besitznahme seines väterlichen Thrones zu verhelfen.

Das abenteuerliche Unternehmen des Schwindlers und seiner Mitschwindler in den Einzelnheiten der militärischen Handlungen zu verfolgen ist an diesem Orte unthunlich und auch überflüssig. Es genügt ja, zu sagen, daß der Abenteurer binnen wenigen Monaten einen vollständigen Erfolg erzielte, obzwar er nach einem kriegerischen Unfall, welchen er auf seinem Zuge nach Russland hinein erlitt, einmal schon zur Rückflucht nach Polen sich anschickte. Diese Rückflucht verhinderten aber Russen, welche sich ihm, nachdem er den russischen Boden betreten, sofort angeschlossen hatten. Sie erklärten ihm, falls er feige genug wäre, sein Unternehmen aufzugeben und sie im Stiche zu lassen, so würden sie ihn am Kragen nehmen, um ihn entweder dem Boris auszuliefern oder aber ihn kurzweg todtzuschlagen. So mußte der Schwindler wohl oder übel beharren und ausharren, und bald darauf wurde ihm ein Triumph zutheil, welcher ebenso leicht errungen als glänzend war.

Denn ganz Russland schien ja von der Tarantel gestochen, schien vom Veitstanz ergriffen zu sein. Ein seltsamer, ein epidemischer Rausch war auf die gesammte Bevölkerung gefallen. Die plumpe Lüge vom Wiedererstandensein des Sohnes Iwans des Schrecklichen und von seinem Herankommen übte eine geradezu magische Wirkung. Massen von Bauern, eine Menge von Bojaren und Edelleuten schlossen sich dem Prätendenten auf seinem Zuge gen Moskau an; scharenweise liefen die Soldaten des Boris zu ihm über, und eine Stadt nach der andern öffnete ihm ihre Thore. In der Hauptstadt verließen die Ratten nach Rattenart das gefährdete Schiff, d. h. im Kremlin ward es mehr und mehr leer und öde um den Zaren Boris her. Das Verhängniß lag bleischwer auf den Schultern des Mannes. Er vermochte nicht aufzukommen wider die Last, sondern brach darunter zusammen. Am Morgen vom 13. April 1605 hielt er noch einen Rathschlag mit den obersten Staatswürdenträgern; am Abend desselben Tages war er todt. Ob er Gift genommen, ob ein Schlagfluß ihn weggerafft, ist unbestimmt und unbestimmbar. Doch ist der Schlagfluß wahrscheinlicher als das Gift. Im 15., 16., 17. und 18. Jahrhundert konnte ja bekanntlich kein mächtiger oder auch nur vorragender Mann eines jähen Todes sterben, ohne daß er dem Glauben der Leute nach vergiftet worden sein oder sich selbst vergiftet haben mußte. Es ist das für die Sittlichkeitsbegriffe und die Sittenzustände der „guten alten frommen Zeit“ sehr kennzeichnend.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 459. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_459.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)