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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


Sproß des Hauses Rurik, als legitimer Sohn des vierten Iwan Wassiljewitsch, mit der Hilfe Polens geltend zu machen.

„Mit der Hilfe Polens.“ Schon dieser Beisatz hätte die Russen stutzig machen können und sollen. Aus Polen und mit Polens Hilfe kam der Prätendent, also aus dem Lande und mit der Unterstützung von Russlands Erbfeind. Aber wann und wo haben Menschendummheit, Volksaberglauben und Parteiwuth gezögert, auf einen kolossalen Lügenköder begierig anzubeißen? Nimmer und nirgends! Wann und wo haben sie angesichts eines frechen Schwindels verständige Erwägungen angestellt? Zu keiner Zeit und an keinem Ort!

Der wirkliche Sohn des „grausen“ Zaren, der wahre Dmitry, war zweifellos ermordet, todt und begraben. Das hinderte aber nicht, daß die große Mehrzahl der Russen in einem nachgemachten Dmitry einen Helden, Herrn und Heiland sah und ihn geradezu vergötterte, für eine Weile nämlich, das heißt gerade so lange, als er Glück hatte.

Der historische Roman vom falschen Demetrius, welchen man, wie im Schlußkapitel dieser Historie gezeigt werden soll, füglich einen Tendenzroman nennen darf, hat also angehoben.

Um die Mitte des Jahres 1603 stand im Schlosse zu Brahin in Lithauen ein junger Mensch als Bereiter oder Unterstallmeister im Dienste des polnischen Fürsten Adam Wiszniewiecki. Eines Tages wurde der Bereiter krank, todtkrank, das heißt er stellte sich krank, todtkrank, und ließ den Hauskaplan des Fürsten, welcher Geistliche ein Jesuit war – wohlgemerkt! – zu sich bitten, um diesem seine angeblich letzte Beichte abzulegen. Solchem Beichtvater nun anvertraute das Beichtkind, daß es der todtgeglaubte russische Zaréwitsch Dmitry wäre und folglich der rechtmäßige Zar aller Reußen, dessen angestammten Thron ein grausamer Usurpator innehätte. Zur Bekräftigung dieser großen Neuigkeit erzählte – dem Berichte des Jesuitenpaters zufolge – der Scheinkranke eine höchst romantische Geschichte, allwie er durch einen deutschen Arzt den mörderischen Anschlägen des Boris entrissen und wie an seiner statt zu Uglitsch der Sohn eines leibeigenen Knechtes ermordet worden wäre – ein ganz dummes, schlecht ersonnenes und schlecht stilisirtes Märchen. Aber in solchen Fällen heißt es bekanntlich: „Je dümmer, desto schöner!“ Als Beglaubigung seiner Fabel brachte, wie der Beichtvater erzählte, der Bereiter ein Siegel vor, welches Wappen und Namen des Zaréwitsch Dmitry zeigte, sowie ein kleines goldenes, angeblich mit Edelsteinen besetztes Kreuz, welches ihm, behauptete er, bei seiner Taufe sein Pathe, der Fürst Mstislawski, geschenkt hätte.

So die Aufstellung, so die Beweisstücke. Und daraufhin – es klingt ebenfalls märchenhaft – wurde der Stallknecht von seinem Brotherrn, dem Fürsten Adam Wiszniewiecki, als wirklicher und wahrhafter Zaréwitsch Dmitry anerkannt – rasch auch von anderen, so von dem Bruder des lithauischen Magnaten, dem Fürsten Konstantin Wiszniewiecki, und von dessen Schwiegervater, dem Woiwoden von Sendomir, Jurii Mniszek. Diese beiden Großbarone, beide als fanatische Anhänger der Gesellschaft Jesu bekannt, erklärten dem Könige Sigismund, der Bruder und rechtmäßige Nachfolger des verstorbenen russischen Zaren Feodor wäre wunderbarer Weise gerettet, aufgefunden und erkannt worden. Sigismund, von dem päpstlichen Nuntius an seinem Hofe, Monsignore Rangoni, gehörig bearbeitet, glaubte oder stellte sich an, als glaubte er an eine Sache, welche mehr und mehr die Gestalt einer von langer Hand her vorbereiteten und inscenirten Komödie annahm und dann auch ganz ungescheut als ein gegen Russland, gegen das anatolisch-byzantinisch-rechtgläubige Russland gerichtetes jesuitisch-polnisches Intrikenspiel weiterspielte.

Der Stalldiener Wiszniewiecki's wurde unter der Hand an den polnischen Königshof nach Warschau geladen. Dort ist er im folgenden Jahre (1604) im Palaste des Nuntius (oder im Jesuitenkollegium?) von der griechisch-katholischen zur römisch-katholischen Kirche übergetreten, was wohl auch nur eine Scene der ganzen Komödie war, insofern der nachgemachte Zaréwitsch höchst wahrscheinlich von Geburt ein Polak und demnach schon von Haus aus römisch-katholisch gewesen ist. Aber die feierliche Posse war durchaus im Sinne der Leiter des ganzen Stückes, das heißt der Jesuiten, nothwendig, um der Welt einen zum römischen Katholicismus bekehrten russischen Zaréwitsch vorschauspielen zu können. Bei seinem angeblichen Uebertritt in die römische Kirche, welcher übriges vorläufig noch geheim gehalten werden sollte, mußte der junge Mann geloben, auch Russland zu dieser Kirche herüberzubringen, was ja schon seit längerer Zeit der heiße Wunsch der Gesellschaft Jesu und der Zweck von schon mancher offen oder versteckt gethanen Arbeit derselben gewesen. Das geleistete Gelöbniß war der Preis, um welchen die Jesuiten den kläglichen Waschlappen von Polenkönig, Sigismund den Dritten, vermochten, den erdichteten und zurechtgeschneiderten Dmitry förmlich als Zaréwitsch, als echten und legitimen Sprössling von Iwan Wassiljewitsch anzuerkennen. In feierlicher Audienz ließ sich der „König“ der „Republik“ Polen – die Verkuppelung dieser beiden Worte kennzeichnet sprechend die polnische Anarchie – durch den päpstlichen Nuntius den Prätendenten vorstellen und richtete an denselben die Worte: „Gott behüte Dich, Demetrius, Fürst von Moskau! Deine Herkunft ist uns bekannt und durch achtungswerthe Zeugen bestätigt. Wir weisen Dir ein Jahrgehalt von 40,000 Gulden an, betrachten Dich als unsern Freund und Gast und ermächtigen Dich, von den Rathschlägen und Diensten unserer Unterthanen Gebrauch zu machen.“

Der Sinn des Schlußsatzes war nichts weniger als dunkel. Die „Republik“ Polen zwar befand sich dazumal im Frieden oder wenigstens in einem auf 20 Jahre geschlossenen Waffenstillstand mit Russland; allein das hinderte den „König“ von Polen nicht, Russland sofort den Krieg zu machen, wenigstens mittelbar, indem er den angeblichen Zaréwitsch ermächtigte, „von den Rathschlägen und Diensten“ der polnischen Großen Gebrauch zu machen, d. h. mit Hilfe derselben einen Kriegszug gegen den Zaren Boris zu rüsten.

Bis dahin war diese politische Komödie großen Stils ganz vortrefflich gegangen. Die feinen und frommen Herren von der Gesellschaft Jesu waren eben sehr geschickte Inscenesetzer und Marionettenlenker. Sie hatten das auch in der Auswahl des „Helden“ ihres Stückes bewiesen, indem sie unter der Hand zu verbreiten verstanden, der wiedergefundene Zarensohn hätte alle die körperlichen Merkmale an sich, welche, behaupteten sie, an demselben in seiner Kindheit zu Uglitsch wahrgenommen worden wären. So das Merkmal, daß sein rechter Arm etwas länger als der linke; weiter, daß er eine Warze auf der Stirn und eine zweite unter dem rechten Auge habe. Auch sei er von mittlerem Wuchse wie sein Vater Iwan und sehr braun von Gesichtsfarbe wie seine Mutter Marfa. Im übrigen war unser Abenteurer nach den übereinstimmenden Zeugnissen solcher, die ihn oft gesehen, keineswegs ein Adonis, sondern im Gegentheil ein hässlicher Bursche, dessen impertinent blondes Haar, blaßblaue Augen, breites Gesicht mit vorstehenden Backenknochen, dicke Knollnase und wurstlippiger Mund von beträchtlichem Umfang keine verführerische Physiognomie ausmachten. Dem Anschein nach zwanzig bis zweiundzwanzig Jahre alt, war der junge Mann breitschultrig, kräftig, behend und ein vortrefflicher Reiter, ein so vortrefflicher, daß die Sage, er wäre unter den Kosaken am Don aufgewachsen, vielleicht nicht grundlos sein mag. Seine geistige Kultur war der Meinung polnischer und russischer Edelleute von damals zufolge nicht gering. Denn er verstand rasch und hübsch zu schreiben, sprach polnisch und russisch – die letztgenannte Sprache freilich mit polnischem Accent und häufiger Einmischung polnischer Worte – und kannte sogar etliche Brocken vom Küchenlatein. Die Geschichte Russlands hatte er augenscheinlich sehr eifrig studirt. Er kannte sie genau und war namentlich in der Genealogie der russischen Aristokratie gut bewandert. Seine Rolle als geborner Prinz spielte er meisterlich, indem er sich unter den polnischen Magnaten so sicher und gewandt bewegte, als wäre er sein Lebtag nie in anderer Gesellschaft gewesen. Kurz, bislang machte das Geschöpf der Jesuiten seinen Schöpfern oder wenigstens Ausbildnern alle Ehre.

Es wurde nun unverweilt zur Ausführung des wohlangelegten Plans geschritten, welcher begründet war auf die sklavische oder, besser gesagt, geradezu hündische Anhänglichkeit der russischen Volksmassen an das Haus Rurik und ihre Unzufriedenheit mit dem Regimente des Boris.

Dieser hatte die erste Botschaft vom Auftreten des nachgemachten Zaréwitsch in Lithauen und am polnischen Königshofe leicht genommen. Allein spätere und genauere Nachrichten hatten ihm hinsichtlich des Ernstes der Sache keinen Zweifel mehr gelassen. Er beschloß, den Weitergang der polnischen Kabale – als welche ja ihm, der nur allzu gut wußte, daß der wahre

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