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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


verblichene Außenseite. Die Gräfin hielt sie jetzt geöffnet in der Hand, und während sie unverwandt darauf niederblickte, nahm ihr Antlitz immer mehr einen Ausdruck an, der ihm sonst ganz fremd war.

Es war jenes trübe, halb unbewußte Hinträumen, das uns der Gegenwart völlig entrückt und zurückführt in eine ferne Vergangenheit, wo längst versunkene Erinnerungen wieder auftauchen, längst vergessene Freuden und Leiden aufwachen und Gestalten, die seit Jahren das Grab deckt, auferstehen.

Die Gräfin bemerkte es nicht, daß Minuten und Viertelstunden vergingen, während sie so dasaß, und fuhr halb erschreckt, halb unwillig auf, als die Thür unvermuthet geöffnet wurde. Mit einem raschen Drucke schloß sie die Kapsel und legte die Hand darauf, während ihr ungnädiger Blick zu fragen schien, was die Störung bedeute.

Es war der alte Eberhard, der eintrat, aber nicht in seiner gewöhnlichen feierlichen Haltung. Er war sichtlich bestürzt, und ohne erst eine Frage seiner Gebieterin abzuwarten, begann er sogleich seine Meldung.

„Der Herr Graf ist soeben zurückgekommen.“

„Nun, und wo ist er denn?“ fragte die Gräfin, die gewohnt war, daß der erste Gang des Sohnes bei der Rückkehr ihr galt.

„In seinem Zimmer,“ berichtete Eberhard. „Herr von Ettersberg war zufällig unten an der Treppe, als der Wagen vorfuhr, und hat den Herrn Grafen hinaufgeleitet.“

Die Gräfin erbleichte. „Hinaufgeleitet? Was soll das heißen? Ist irgend etwas vorgefallen?“

„Ich glaube wohl,“ sagte der alte Diener zögernd. „Der Reitknecht sagt, es wäre ein Unfall auf der Jagd gewesen. Das Gewehr des Herrn Grafen hat sich zufällig entladen und ihn verwundet –“

Weiter kam Eberhard nicht mit seinem Berichte; denn die Gräfin war mit einem lauten Schreckensrufe emporgefahren. Die geängstigte Mutter stürzte, ohne weiter zu fragen, ohne irgend etwas hören zu wollen, in das anstoßende Gemach, von wo aus ein Corridor nach den Zimmern ihres Sohnes führte. Der alte Diener, der vollständig den Kopf verloren hatte und ebenso erschrocken war wie seine Gebieterin, wollte ihr eiligst folgen, als Oswald von der andern Seite her durch den Salon eintrat.

„Wo ist meine Tante?“ fragte er hastig.

„Wahrscheinlich schon bei dem Herrn Grafen,“ sagte Eberhard, auf die geöffnete Thür zeigend. „Die Frau Gräfin war so sehr erschrocken, als ich ihr die Nachricht von der Verwundung brachte.“

Oswald machte eine unwillige Bewegung. „Wie konnten Sie so unvorsichtig sein! Die Wunde des Grafen ist ja gar nicht von Bedeutung. Ich komme eben selbst, meiner Tante das mitzutheilen.“

„Gott sei Dank!“ sagte Eberhard aufathmend. „Der Reitknecht erzählte –“

„Der Reitknecht hat den Unfall arg übertrieben,“ unterbrach ihn Oswald. „Der Graf hat eine leichte Verletzung an der Hand, nichts weiter. Es war durchaus nicht nöthig, die Gräfin deswegen so zu erschrecken. Gehen Sie jetzt und melden Sie das dem Herrn Baron Heideck, damit er nicht gleichfalls durch die Nachricht von einer wirklichen Gefahr in Schrecken versetzt wird!“

Eberhard entfernte sich, um den erhaltenen Befehl auszuführen, und auch Oswald stand im Begriff das Zimmer zu verlassen, als sein Blick, der zerstreut und gleichgültig über den Schreibtisch hinglitt, auf die dort liegende Kapsel fiel.

(Fortsetzung folgt.)




Adolf Sonnenthal.
Von Rudolf von Gottschall.

Das Theater am Michaelisplatz in Wien ist seit Jahrzehnten ein Hort deutscher Dichtung: das feine Lustspiel wie die höhere Tragödie haben hier eine Stätte gefunden, wo sie ausgezeichneter künstlerischer Pflege sich erfreuen, und alle politischen Wandlungen haben hierin nichts zu ändern vermocht. Wenn auch Oesterreich aus dem Staatenverbande des deutschen Bundes ausschied: das Wiener Burgtheater hat den Cultus des deutschen Geistes nach wie vor zu seiner Aufgabe gemacht.

Und welche Pietät hegt das Wiener Publicum gegen seine erste Bühne! Es hat die Künstlergemeinde der Burg so in's Herz geschlossen, daß die hervorragenden Darsteller von jedem Einzelnen wie Freunde, ja wie Familienmitglieder betrachtet werden, daß ganz Wien auch an ihrem persönlichen Geschick den wärmsten Antheil nimmt.

Einer der erklärten Lieblinge Wiens ist Adolf Sonnenthal: auch in Deutschland hat dieser Künstler gastirt, in Berlin, München, Leipzig und anderen Städten; doch er ist kein Gastspielreisender von Fach; die Burg ist sein Halt, die Stätte, von der sein Ruf in die Lande ausgeht, und in der That, für seinen Ruhm ist das Theater am Michaelisplatz eine feste Burg geworden.

Sonnenthal wurde am 21. December 1833 in Pest geboren; er besuchte das dortige Polytechnicum und hatte anfangs die Absicht, Lithograph zu werden. Doch auch dieses bescheidene Ziel seines Strebens sollte zunächst für ihn unerreichbar bleiben; denn im Jahre 1848 hatten seine Eltern ihr Vermögen und damit die Mittel verloren, ihn für diese Laufbahn weiter auszubilden. Sonnenthal sah sich genöthigt, zu Nadel, Zwirn und Scheere zu greifen und als Lehrling der ehrsamen Schneiderzunft den Kampf um's Dasein weiter fortzusetzen. Auf einer Wanderschaft kam er nach Wien und besuchte dort das Burgtheater; er sah von der letzten Gallerie herab eine Aufführung von Otto Ludwig's „Erbförster“ mit an, in welchem Stücke damals Anschütz die Titelrolle spielte. Schon lange schwärmte er für das Theater, und wenn er auf dem Schneidertisch saß und die Nadel tapfer handhabte, schwelgte seine Phantasie in glänzenden theatralischen Bildern, obschon er kaum wagte, sein armes Selbst in Zusammenhang zu bringen mit diesem Glanz der Bühne. Wohl hatte er in aller Stille manchen Monolog aus großen Trauerspielen sich eingelernt, doch ihm fehlte zunächst Lehrer und Publicum.

Jener Theaterabend sollte indeß entscheidend werden für sein Geschick. Der Eindruck einer Aufführung am Wiener Burgtheater war so mächtig, daß er es als das höchste Ziel seines Lebens ansah, eine ähnliche Wirkung auf ein begeistertes Publicum auszuüben. Er glaubte sich auf einmal berufen und auserwählt und begab sich zu Bogumil Dawison, der im Rufe eines zugänglichen Künstlers stand, welcher gern junge Talente protegirte. In der That schenkte dieser dem jungen Handwerksburschen, der ihm den Monolog Karl Moor's aus Schiller's „Räubern“ mit Feuer vorgetragen hatte, sein Interesse und empfahl ihn der Beachtung des Directors Laube, der ihn unter die freiwilligen Mitwirkenden seiner Massentableaus aufnahm. Volontair und Statist: ein bescheidener Anfang in künstlerischer und finanzieller Hinsicht!

Längere Zeit executirte Sonnenthal auf der Bühne des Wiener Burgtheaters nur jene bezeichnenden Armbewegungen, mit denen das Volk, das auf der Bühne meistens noch schlechter behandelt wird als in der Weltgeschichte, seinen Antheil an dem Geschicke der ersten Fächer zur Schau trägt. Doch wie viel Mimik er auch im Schatten der verschiedenen Bärte sinnvoll entfaltete: er vermochte keines Sterblichen Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, und sein Ehrgeiz blieb unbefriedigt. In Dawison hatte er glücklicher Weise einen Mentor gefunden, der mit seiner Empfehlung nicht genug gethan zu haben glaubte, der des jungen Talentes sich auch weiterhin annahm und ihm mehrere Rollen einstudirte. Doch damit konnte er in Wien nicht glänzen.

Das Papagenoschloß des Statisten wurde ihm endlich in Temesvar abgenommen, wo er in dem „Glöckner von Notre-Dame“ zuerst als Phöbus von der Bühne herab sprechen durfte (30. October 1851). Von jetzt ab blieb der junge Mime der Kreibig'schen Gesellschaft treu, die sich im Jahre 1852 nach Hermannstadt in Siebenbürgen begab und dort bis 1854 blieb. In diesem Zeitraume mußte Sonnenthal die verschiedenartigsten Rollen spielen; er wurde jedenfalls bühnenfest und bühnenfromm; in der Routine, nicht durch akademische Schulung, bildete sich sein

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 432. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_432.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)