Seite:Die Gartenlaube (1880) 422.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)

täuschen, und man glaubte diesen Zweck dadurch am sichersten zu erreichen, daß man keine Spur von Reue verrieth, sondern die alten demagogischen Trümpfe womöglich verzehnfachte.

Leider trog diese dreiste Rechnung nicht. Das einfache und unbefangene Gemüth der großen Masse mag nichts vom Schwanken und Zweifeln wissen; es verlangt greifbare Gewißheit, und nur zu leicht imponirt ihm jene hartnäckige Frechheit, welche, ohne auch nur mit den Wimpern zu zucken, Schwarz für Weiß und Weiß für Schwarz erklärt. Man kann sagen, daß vom Tage des Friedensschlusses mit Frankreich an die socialdemokratische Bewegung sich wieder hob, anfangs langsam, dann schneller und immer schneller. Freilich: die emsige Sorgfalt der Führer vermochte nur die noch matt flackernde Flamme zu hüten und zu schüren, daß sie nicht völlig verlösche; außerhalb ihrer Macht lag, sie weiter zu leiten, sodaß sie mit gieriger Zunge sich immer tiefer in den edlen Leib des Vaterlandes fraß. Diese Wirkung entsprang, wie immer in solchen Fällen, anderen Ursachen allgemeiner Natur.

Außer jenen Umständen, welche bereits früher als maßgebend für die Entstehung der deutschen Socialdemokratie angeführt worden sind, trat namentlich ein verhängnißvolles Moment hervor, dessen Einfluß auf die sociale Vergiftung unseres nationalen Lebens gar nicht hoch genug angeschlagen werden kann: jene niederträchtige Gründer-, Schwindel- und Wucherperiode, die auf den französischen Krieg folgte wie ein freches Satyrspiel auf eine erschütternde Tragödie. Zunächst freilich schien dieses Treiben nicht ungünstig auf die Lage der unteren Volksschichten zu wirken; es führte unausweichlich zu mehr oder minder erheblichen Lohnerhöhungen. Nicht nur daß die Arbeitgeber geneigter dazu waren, weil ihr eigener Verdienst erheblich wuchs, sondern die starke, anscheinend gar nicht zu befriedigende Nachfrage nach Arbeitern trieb die Löhne schon von selbst in die Höhe.

Aber es haftet nun einmal wie ein unauslöschlicher Fluch an solchem Katzengolde; das uralte Loos unseres bedürftigen und gebrechlichen Geschlechtes will, daß nur die langsam reifende Frucht mühsamer Arbeit den Menschen gedeiht. Jener günstige Umschwung trat viel zu schroff und unvermittelt ein, als daß die Arbeiter von ihm zunächst nicht hätten berauscht werden sollen, und ehe sie sich noch ernüchtern konnten, kam schon der Krach, welcher sie nun doppelt und dreifach unzufrieden machte, weil einerseits ihre Bedürfnisse erheblich gestiegen waren, und andererseits die Löhne meist noch tief unter die Grenze sanken, welche sie vor der Schwindelperiode eingehalten hatten.

Man braucht sich nur die tausendfältigen Wirkungen eines so jähen Auf- und Niederganges in den arbeitenden Classen vorzustellen, um zu erkennen, eine wie unverwindliche Einbuße das in ihnen vorhandene Maß von Fleiß und Kraft, von Geduld und Treue, von Einsicht und Ueberlegung erleiden mußte, das heißt wie leicht nunmehr die herrliche Verheißung eines süßen Schlaraffenlebens unheimliche Gewalt aber ihre Seelen gewinnen konnte. Diese Gefahr war um so drohender, als es sich bei der ganzen Erscheinung nicht sowohl um die moralische Verwilderung der einzelnen Arbeiter, als um die socialpolitische Zerrüttung der Arbeitermasse handelte. In ersterer Beziehung ist außerordentlich viel übertrieben worden; die besitzenden Classen haben nur zu oft in pharisäischem Hochmuthe es vorgezogen, über die Splitter im Auge der Arbeiter zu schelten statt den Balken im eigenen Auge zu sehen; jene Maurer, die einmal in einer Droschke auf ihren Arbeitsplatz gefahren sein, oder jene Steinträger, welche einmal Austern und Sect gefrühstückt haben sollen, sind in unbilliger Weise zu Tode gehetzt worden. Solchen zweifelhaften Reportergeschichten steht eine Reihe von Thatsachen gegenüber – beispielsweise wurde im Jahre 1872 die kolossale Summe von 83,6 Millionen Thaler in die preußischen Sparcassen neu eingelegt – welche es in hohem Grade wahrscheinlich macht, daß die Lohnerhöhungen der Schwindelperiode wenigstens zu einem erheblichen Theile von den einzelnen Arbeitern in ehrenwerther und nützlicher Weise verbraucht worden sind.

Ganz anders steht es mit den socialpolitischen Wirkungen dieser Zeit auf den Arbeiterstand als solchen. Gerade in seinen einsichtigsten und vorgeschrittensten Elementen entwickelte sich ein Selbstbewußtsein und eine Siegeszuversicht, die gar keine vernünftigen Schranken mehr kannten. Nicht zufrieden mit den erreichten Erfolgen, wollten die Arbeiter sich einen noch immer höheren Antheil an dem nationalen Gesammteinkommen erringen, und sie wählten für diesen Zweck das sehr zweischneidige Mittel der Arbeitseinstellungen.

An diesem Punkte setzte die communistische Demagogie ein. Sie benutzte die Strikes gleichsam als Canäle, um den in unzähligen Rinnsalen durch die arbeitenden Classen sickernde Strom der Leidenschaften in eine gemeinsame Richtung zu lenken und auf ihre eigenen Mühlräder zu treiben. An sich steht die Arbeitseinstellung in unheilbarem Widerspruche mit ihrem unfehlbaren Credo, ein Satz, der namentlich von Lassalle wieder und wieder mit größtem Nachdrucke betont wurde. Und in der That – wenn das „eherne Lohngesetz“, das heißt die Beschränkung des Arbeitslohns auf den nothwendigen Lebensbedarf des Arbeiters, in der modernen Gesellschaft unabänderlich herrschen soll, was kann der Versuch, durch Einstellung der Arbeit den Lohn zu erhöhen, anders erzielen, als daß die Arbeiter sich das schmerzliche Joch höchstens noch tiefer in den Nacken drücken? Deshalb rieth Lassalle, so viel er konnte, stets von Arbeitseinstellungen ab.

Gewissenloser, als er, verfuhren seine kleineren Nachfolger. Sie waren sich zwar vollkommen klar über die verhängnißvollen Wirkungen systematischen Strikens, aber sie wußten auch, daß die Arbeitseinstellung nächst dem Bürgerkriege die heftigste Form des inneren Zwistes darstellt, daß sie, wie kein anderes Mittel, geeignet ist, unversöhnliche Feindschaft zwischen Arbeitgebern und Arbeitern zu säen oder, wie die Agitatoren es nannten, das „Classenbewußtsein“ der letzteren zu fördern. Natürlich sind aber Strikes nur möglich unter Arbeitern derselben Gewerbe, und so hatten beide Secten der deutschen Socialdemokratie sich schon vor 1870 bemüht, ihre Anhänger „behufs planmäßiger, zusammenhängender Organisation der Strikes“ je nach den einzelnen Gewerken zu sondern.

Diese Gewerkvereine socialdemokratischer Richtung nahmen einen gewaltigen Aufschwung, als während der Schwindelperiode das Strikefieber in breiten Schichten des Arbeiterstandes ausbrach. Sie kamen der thörichten Leidenschaft schmeichelnd entgegen und waren bereit, jede Arbeitseinstellung zu unternehmen, wie aussichtsvoll oder wie aussichtslos sie immer war. So wurden sie außerordentlich ergiebige Werbeplätze für die Partei des Umsturzes. Unzählige Arbeiter, welche sich ihnen zunächst nur aus Strikelust anschlossen, blieben in ihren Netzen hängen, ob nun die einzelne Arbeitseinstellung glückte oder nicht. Im erstere Falle fesselte sie Uebermuth, in letzteren Verzweiflung an ihre neue Freunde; ist es doch ein unerreichbarer Vortheil, den eine revolutionäre Arbeiterpartei vor allen anderen Parteien hat, daß der Rausch wie der Katzenjammer gleich erfolgreich für sie werben.

Unter solchen Um- und Zuständen gewann die socialdemokratische Partei binnen weniger Jahre nach 1870 einen viel breitere Boden in Deutschland, als sie je vorher gehabt hatte. Während das öffentliche Urtheil sich vielfach in der alten Selbstverblendung wiegte und von ihrem „Rückgange“ träumte, warf sie bei den Reichstagswahlen vom 10. Januar 1874 Zahlen auf den Tisch, die ihr gestatteten, grimmigen Spott über ihre kurzsichtigen Gegner auszuschütten. Sie gewann neun Reichstagssitze und gelangte in elf Wahlkreisen zur engeren Wahl. Noch glänzender trat ihr Triumph hervor, wenn man die Zahl der Stimmen musterte, welche sie davongetragen hatte; es waren ihrer nicht weniger, als – in runder Summe – 340,000, mehr als sechs Prozent aller gültig abgegebenen Stimmen.

Dieser namhafte Wahlerfolg pflückte für die Partei aber noch eine andere Frucht, welche an Werth ihn selbst fast übertraf: er schenkte ihr nämlich den inneren Frieden. Schon seitdem Schweitzer in’s bürgerliche Leben zurückgekehrt war, Bebel und Liebknecht in Hubertusburg ihre Strafe absaßen, hatte der ewige persönliche Krakehl erheblich nachgelassen; man schimpfte wohl noch auf einander, aber der echte und rechte Demagogenneid fehlte, der solch elendes Gezänk auf die Dauer allein gedeihen lassen kann. Mit der Minderung der persönlichen Kämpfe wuchs aber zugleich die sachliche Annäherung der beiden Flügel. Die Lassalleanische Secte hatte unter den unfähigen Nachfolgern Schweitzer’s ihren eigentümlich nationalen Charakter nach und nach verloren; sie war mehr und mehr in das Fahrwasser des internationalen Arbeiterbundes geglitten; von neuem bewährte sich die Erfahrung, daß in revolutionären Parteien die wüthendere regelmäßig über die gemäßigtere den Sieg davonträgt.

Nun kamen die Wahlen, und auch das blödeste Auge mußte

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 422. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_422.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)