Seite:Die Gartenlaube (1880) 406.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)

Volkstheaters, das hauptsächlich die Pariser Cancan-Operette cultivirt, und zuletzt suchte sie ihrem bisherigen neunzehnjährigen Zerstörungswerke die Krone aufzusetzen, indem sie, wie wir im Eingange gesehen, das nur noch als Privatinstitut bestehende deutsche Theater, das letzte überlebende von den vier früher vorhanden gewesenen, zu unterdrücken begann.

Obwohl das ungarische Nationalitätengesetz vom Jahre 1968 ausdrücklich bestimmt, daß jeder Bürger in den Stadtverordneten-Versammlungen sich seiner Muttersprache bedienen dürfe, sofern diese Sprache von mindestens einem Fünftel der Gemeindebevölkerung gesprochen wird, faßte die Pester Stadtverordneten-Versammlung dennoch den Beschluß, daß in ihr blos magyarisch gesprochen werden dürfte, was zur Folge hätte, daß sich die bewährtesten bürgerlichen Elemente aus ihr zurückziehen mußten und der Platz ziemlich ausschließlich besitz- und bildungslosen, aus der Provinz eingewanderten Magyaren überlassen blieb, welche nun bekanntlich in der vielfach erörterten und tief gemißbilligten Weise mit dem Vermögen der Stadt wirthschaften.

Der §  21 des angeführten Nationalitätengesetzes lautet: „Die Gemeindebeamten sind verpflichtet, in ihrem Verkehr mit den Gemeindebewohnern deren Sprachen zu gebrauchen“; dem ungeachtet wurden seit 1861 mit Vorliebe solche Beamten angestellt, die blos des Magyarischen kundig sind, sodaß der steuerzahlende Pester Bürger sich in seinem Verkehr mit den Beamten der eigenen Stadt eines Dolmetschers bedienen muß, und in neuester Zeit wurde sogar mit offener Verhöhnung des § 23, jenes mehrerwähnten Gesetzes die Verfügung getroffen, daß städtische Behörden schriftliche Eingaben blos in magyarischer Sprache annehmen dürfen.

Diese administratiyen Maßregelungen wurden und werden auch von einem socialen Terrorismus begleitet, der den deutschen Bürger auf Schritt und Tritt beunruhigt und quält. Heißspornige magyarische Blätter brachten täglich Proscriptionslisten jener Geschäftshäuser, welche sich erkühnten, deutsche Firmenschilder zu führen; dieselben Blätter denuncirten alle Vereine, ja sogar enge Familienkreise, in denen deutsch conversirt wurde, und beschimpften einzelne Individuen, die deutsche Gesinnung und Anhänglichkeit an ihre Muttersprache freimüthig bekundeten. Der Abgeordnete Mocsary that in offener Sitzung des ungarischen Abgeordnetenhauses den Ausspruch: „Die deutsche Sprache muß bei uns die Sprache der Kellner und Hausknechte werden,“ und in allen magyarischen Kneipen wurde unter rohem Jubel ein Spottlied gegen die Deutschen gesungen, dessen erster Vers lautet: „Mégis hunczúta német!“ („Der Deutsche ist doch ein Hundsfott!“) Es ist nicht der geringste Grund zu der Befürchtung vorhanden, durch solche Mittheilungen in Deutschland etwa einen Rassenhaß zu entzünden. Der deutsche Charakter neigt nicht dazu. Aber es liegen doch unabweisbare Anlässe vor, diese fast im Stillen sich vollziehenden, aber ganz notorischen zeitgeschichtlichen Thatsachen dem öffentlichen Urtheil vorzuführen. Viele Tausende von Zeugen erlebten und erleben sie stündlich. Es würde ein großer Muth der Lüge, oder ein sehr unkundiges Publicum dazu gehören, wenn man den Versuch machen wollte, sie abzuleugnen oder zu widerlegen.

Aehnlich wie in der Hauptstadt, ging es im ganzen Lande zu. Ueberall wurden die deutschen Schulen unterdrückt (mit offener Verletzung des Volksschulgesetzes vom Jahre 1868, welches bestimmt, daß jedes Kind in der Elementar- und Mittelschule in seiner Muttersprache unterrichtet werden müsse!) und man ersetzte sie durch magyarische. Die Verwaltung wurde ausschließlich magyarisch, selbst in reindeutschen Bezirken. Der magyarische Beamtenkörper wurde in jedem Orte ein Centrum der Propaganda, welche durch gesellschaftlichen und amtlichen Hochdruck den wohlhabenden und angesehenen Theil der Bevölkerung zum Magyarismus zu bekehren sucht.

Die deutschen Beamten des Staats und der Verkehrsanstalten, zum Theil alte Männer, die im Dienste des Landes und in redlicher Pflichterfüllung ergraut waren, wurden aus ihren Stellungen verdrängt; man machte ihr Verbleiben im Amte von der Erlernung der magyarischen Sprache abhängig, für die man ihnen eine Frist von sechs Monaten gewährte, welche einmal sogar gnädig um weitere sechs Monate verlängert wurde. Also ein Jahr zur Erlernung der schwersten europäischen Sprache, die in ihrem ural-altaischen turanischen Gefüge von allen iranischen Sprachen so urverschieden ist, daß ein indogermanischer Geist wenn er das Jugendalter überschritten hat, sich in ihre Eigenheiten überhaupt gar nicht mehr einleben kann. Solche Forderungen stellte man an alte Männer, die dabei von Amtsgeschäften fortwährend in Anspruch genommen waren und gar nicht die Zeit hatten, sich mit dem Erlernen eines fremden Idioms abzugeben. Natürlich war die Folge dieser Maßregel, daß neun Zehntel der deutschen Beamten entlassen wurden und am Abend ihres Lebens ihre Existenz vernichtet sahen.

So ging es in Ungarn, seit dem Jahre 1861 her. Heute nun liegen die Dinge so, daß die Deutschen, die 1861 bereits das Jünglingsalter erreicht hatten und nun das Magyarische nicht mehr erlernen konnten oder wollten, aus der Gemeinde- und Staatsverwaltung verdrängt wurden, daß ihnen Aemter und Ehrenstellen unzugänglich sind, daß die öffentlichen Laufbahnen für sie nicht existiren, daß sie im eigenen Vaterlande förmlich vaterlandslos dastehen. In der Hauptstadt, in reindeutschen Landbezirken giebt es keine einzige deutsche Volks- und Mittelschule mehr, und die Kinder werden in den Unterrichtsanstalten mit aller Macht magyarisirt. Das Gesetz schreibt wohl vor, daß Deutsch in den Schulen als obligater Lehrgegenstand vorgetragen werde, allein die oberen Schulbehörden geben den betreffenden Lehrern bei ihrer Ernennung zum Lehreramte den vertraulichen Wink, sich nicht allzu sehr anzustrengen, und wenn sie es trotzdem mit ihrem Berufe ernst nehmen und im Unterricht des Deutschen Eifer an den Tag legen, werden sie von ihren Collegen denuncirt und verlieren für immer die Aussicht auf Beförderung. Die Folge dieses Systems ist, daß die neue Generation, die seit 1861 erwächst, Deutsch nicht mehr als gebildete Sprache spricht, sondern als Küchenjargon radebricht, daß in vielen Fällen die Eltern sich mit den magyarisirten Kindern nicht mehr verständigen können.

Die allgemeine Cultur des Landes ist erschreckend zurückgegangen. Viele Orte, die früher ein gutes deutsches Theater, ja selbst eine Oper hatten, entbehren jetzt jeder Möglichkeit, sich bildende Genüsse zu verschaffen; deutsche Vereine, in denen edle Geselligkeit gepflegt wurde, haben sich aufgelöst und sind durch „Casinos“ ersetzt worden, in denen magyarische Beamten trinken und Karten spielen. Der Absatz guter Bücher hat abgenommen, das Land producirt nicht mehr Lehrkräfte genug für seinen Bedarf und muß für alle höheren Verwaltungszwecke, für alle technischen Aufgaben ausländische Fachmänner – meist doch wieder die verhaßten, aber unentbehrlichen „Schwaben“! – berufen.

Daß es so weit kommen konnte, ist allerdings zum Theil die Schuld jener zwei Millionen deutscher Bürger, die sich widerstandslos zu verachteten vaterlands- und rechtlosen Parias erniedrigen ließen. Die Deutschen Ungarns kamen eben anfangs der magyarischen Bewegung mit Sympathie entgegen, weil im Jahre 1861 Oesterreicherthum leider Ultramontanismus, Absolutismus und Reaction, der Magyarismus dagegen politische und religiöse Freiheit bedeutete; Freiheit allerdings nur für den magyarischen Stamm, nicht aber für die nichtmagyarischen Nationalitäten des Landes, was die guten für liberale Schlagworte schwärmenden Deutsch-Ungarn völlig übersahen. Als die Deutschen später erkannten, daß die neue Aera ihrer Sprache, ihrer Bildung, ihrem Volksthum an’s Leben gehe, waren sie schwach genug, Alles schweigend zu erdulden. Viele magyarisirten ihre Namen, gingen zur herrschenden Partei über, ließen sich mit Titeln und Aemtern dafür belohnen und suchen nun durch doppelten Eifer im Kampf gegen die Deutschen ihren eigenen deutschen Ursprung vergessen zu machen.

Ungarn hat eine weitverbreitete deutsche Presse. Zwei deutsche Blätter der Hauptstadt haben jedes für sich allein mehr Abonnenten als alle magyarischen Blätter zusammengenommen. Diese Zeitungen waren die natürlichen Anwälte und Vertheidiger des Deutschthums. Ein um so beklemmenderes Schauspiel gewährt es, täglich zu sehen, wie solche hervorragende Organe ganz offen mit ihrem deutschen Wort unter der Fahne der ausgesprochensten Deutschenverfolgung kämpfen. Wenn der einzelne Deutsche aber sieht, daß er bei der Regierung keinen Schutz findet, daß seine eigene einheimische Presse mit der Bekämpfung gemeinsame Sache macht und daß isolirtes Hervortreten mit seiner Gesinnung ihn allen Möglichen Verfolgungen und Unbilden aussetzt, so wagt er es nicht mehr, Farbe zu bekennen, und verschließt seinen Groll in’s Herz, wo er weiterfrißt.

Heute sind es die Deutschen Ungarns allein, die unter diesen Zuständen leiden, aber die Magyaren werden bald genug

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 406. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_406.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)