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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


zu bestechen gewußt, so daß sie den Knaben heimlich zu ihr ließen.

Wir wissen heute, wohin die Verirrungen, die auf solche Art in dieses junge Leben kamen, führten, und daß Karl’s späterer Selbstmordversuch den zu frühen Tod des großen Mannes selbst herbeiführen half. Also begreifen wir den langen schmerzerfüllten und innerlich empörten Brief, den, als einen der letzten uns erhaltenen, Beethoven jetzt an seine „beste Frau von Streicher“ schreibt. Man findet ihn in den „Neuen Briefen Beethoven’s“; er enthält die ganze Empfindungsgewalt wie die tief sittliche und doch immer humane Anschauung unseres Künstlers.

„Karl hat gefehlt – aber Mutter – Mutter! – selbst eine schlechte bleibt doch immer Mutter,“ ruft er aus. „Insofern ist er zu entschuldigen, besonders von mir, da ich seine ränkevolle leidenschaftliche Mutter zu gut kenne. Mein Herz wird schrecklich bei dieser Geschichte angegriffen, und noch kann ich mich kaum erholen. Ich lade Sie auch nicht ein hierher, denn alles ist in Verwirrung, jedoch wird man nicht nöthig haben, mich in den Narrenthurm zu führen.“

Seinem Zorn über „die Verrätherei der verstockten Sünderinnen“ hatte er mit „Marsch, zum Hause hinaus, zum abschreckenden Beispiel aller künftigen!“ genügt. Und den Donner der elementaren Kraft des Heroen vernimmt man aus den Worten über den Pfarrer, bei dem Karl in die Schule ging: „Der Pfaff hier weiß schon, daß ich von ihm weiß, denn Karl hatte es mir schon gesagt. Es ist zu vermuthen, daß er nicht ganz unterrichtet war und daß er sich hüten werde. Allein damit Karl nicht übel von ihm behandelt werde, da er überhaupt etwas roh scheint, so ist es für jetzt genug. Da aber Karl’s Tugend auf die Probe gesetzt – denn ohne Versuchungen giebt es keine Tugend – so lasse ich es mit Fleiß hingehen, bis es noch einmal, was ich zwar nicht vermuthe, geschieht, wo ich dann Seiner Hochwürden Ihre Geistlichkeit mit solchen geistigen Prügeln und Amuletten und mit meiner ausschließlichen Vormundschaft und daher rührenden Privilegien so erbärmlich zurichten werde, daß die ganze Pfarrei davon erbeben soll.“ – – „Machen Sie nichts bekannt, da man auf Karl nachtheilig schließen konnte. Nur ich, da ich alle Triebräder hier kenne, kann für ihn zeugen, daß er auf das Schrecklichste verführt ward,“ sagt er der Freundin zum Schlusse.

„Ich bitte, uns bald etwas Tröstliches wegen der Koch-, Wasch-, Nähkunst zu schreiben!“ damit gemahnt er dieselbe zuletzt auch noch an ihre näheren Pflichten. Die tiefe Vertrauensäußerung aber, die in diesem vollen Herzenserguß, einem der längsten Briefe Beethoven’s liegt, mochte ihr selbst erst zeigen, was sie dem Meister überhaupt war, und bestätigt uns den Werth und die Würde dieses Freundschaftsverhältnisses völlig.

Welch geradezu fürchterlichen Eindruck aber das Vorgehen der „bösen Frau“ selbst auf ihn gemacht, erfahren wir vor Allem aus dem Tagebuche der Tochter des Institutsvorstehers. Jene hatte den Knaben schließlich dahin gebracht, daß er dem Oheim entfloh und zu ihr lief, und dieser, der männlichste der Männer, mußte den Vorgang selbst unter heftigem Weinen berichten. Denn: „Er schämt sich meiner,“ lautete die Ursache von Karl’s Flucht.

In den Haushalt aber kam doch nach und nach soviel Gang, daß die jähen Explosionen seltener wurden. Den großen Triumph des Künstlers in dem Concerte vom Mai 1824, wo der neunten Symphonie stürmischer Empfang bereitet wurde, erlebte die Freundin mit. Wie sie jetzt zu dem Manne emporschauten, den seine Lebensleiden noch größer gemacht hatten als sein angeborenes Genie, sagt uns das Wort, womit im Herbste 1824 Streicher den Instrumentenmacher Stumpff aus London empfiehlt: „Die Ursache, warum er nach Baden kommt, ist, Sie, werthester Beethoven, den Mann zu sehen, auf den Deutschland stolz ist. Nehmen Sie ihn gütig und freundlich auf, sowie es dem Heiligen geziemt, zu welchem der andächtige Pilger aus der Ferne eine Wallfahrt macht!“

Die Sorge der Freunde erstreckt sich jetzt vorwiegend auf seine allerdings nicht glänzende äußere Subsistenz: Streicher will im Jahre 1824 mit Concert-Arrangements und verlegerischen Unternehmungen nachhelfen. Allein schon im nächsten Jahre bekommt durch den Selbstmordversuch des Neffen des Meisters Dasein jenen innern Stoß, dem es erlag. - Unter den Freunden, die ihn auf dem letzten Krankenbette mit Compot, Wein und Champagner erfrischen, befindet sich auch der Name Streicher. Der letzte Dienst der getreuen „Schaffnerin“ war, wie der erste, ein Liebesdienst. Sie starb sechs Jahre nach Beethoven. Sein Name hob den ihren mit zur Unvergessenheit empor.

Ludwig Nohl.


Die Wolga und ihre Schifffahrt.

Die Wolga, unter dem Namen „Matuschka Wolga“ (Mütterchen Wolga) von den Russen geradezu göttlich verehrt, hat von Rybinsk bis hinunter zur Mündung in’s Kaspische Meer beim niedrigsten Wasserstande eine durchschnittliche Breite von circa 1/5 deutsche Meile. Im Frühjahr und Herbst, wenn dieselbe um 10 bis 15 Meter über den normalen Wasserstand hinaussteigt, erreicht sie eine circa dreimal so breite Ausdehnung, die an vielen Stellen sogar mehr als eine deutsche Meile beträgt.

Wie groß der Schade ist, der durch diese furchtbaren Wassermassen den in der Nähe des Flusses wohnenden Menschen zugefügt wird, kann man sich denken. Es ist Thatsache, daß viele Einwohner ihr Hab und Gut im Frühjahr und Herbst verlassen, um sich den stets drohenden Gefahren der Ueberschwemmung zu entziehen. Jedoch trifft das bis auf wenige Ausnahmen nur das linke Wolga-Ufer, welches durchweg flach zu nennen ist; nur an einigen Stellen, besonders in den Gegenden zwischen Simbirsk und Samara, befinden sich enge, von hohen Felsenbergen gebildete Durchgänge, die den Strom des Wassers bedeutend hemmen und so ein furchtbares Steigen des Flusses verursachen. Die Stromschnellen dieser Gegend bieten der Schifffahrt eine stets gefährliche Passage, und im Frühjahr wird die Gefahr noch durch die vom starken Strom ausgerissenen Bäume und durch zerstückelte Flöße, welche diese Stellen verstopfen, in bedeutendem Maße vergrößert. An dem rechten Ufer zwischen Simbirsk und Samara, der schönsten Gegend an der Wolga, erheben sich kolossale Felsmassen, ja es giebt dort Schluchten, Thäler und Berge, wie man sie wohl am alten deutschen Rhein nicht schöner zu finden vermag. Jeder Reisende, der dort vorbeifährt, wird mit Bewunderung auf die stellenweise geradezu romantisch gelegenen Dörfer schauen, die, auf drei Seiten von hohen und steilen Felsmassen umgeben, an der vierten von der Wolga umspült, wie in einem natürlichen Gefängniß eingeschlossen liegen. Hier findet man auch hohe Kalksteinbrüche, die in ihren Formen zuweilen lebhaft an die zerfallenen Burgruinen des Rheins erinnern. Als besonders schön ist ein hoher Bergrücken bei dem Dorfe Schiguli zu erwähnen. Eine Anzahl ganz steil nach der Wolga abfallender Berge bildet hier eine lange Bergwand, die abwechselnd bald mit Bäumen bedeckt ist, bald unerschöpfliche Steinbrüche bietet. Von diesen Bergen aus hat man bei Hochwasser einen geradezu imposanten Anblick. Wie ein endloses Meer breitet sich von dem Fuße der Berge eine Wassermenge aus, deren Grenzen dem Auge kaum erreichbar sind. Auf einem der höchsten Berge in dieser Gegend, den einst Peter der Große bestiegen, erblickt man noch heutigen Tages die Trümmer einer zerfallenen Burg. Dieser Berg wird seither unter dem Namen „Kaiserberg“ von den Russen sehr hoch geehrt.

Beim Beginn des Sommers, wenn die starre Eisdecke geschwunden ist, die fünf bis sechs Monate die Landschaft verödet und fast jeden Verkehr abgeschnitten hat, gewährt diese Gegend dem Auge andere Reize. Dann beginnt der Handel. Dampfschiffe jeder Gattung und Transportschiffe, das heißt Barken, der größten Dimensionen nehmen hauptsächlich das im Winter aufgespeicherte Getreide ein, welches von Tausenden von Menschen eingeladen wird. Endlos scheinende Holzflöße ziehen sich gleich Schlangen den Strom entlang, und die Fischereien beginnen jetzt ihre hauptsächlichste Thätigkeit. Das frische, dem Auge wohlthuende Grün, die unabsehbaren Schaaren wilden Wassergeflügels rufen Bewunderung und Staunen hervor; mit einem Worte: um diese Zeit, wo die Wolga sich sozusagen im Hochzeitsschmucke befindet, ist es geradezu paradiesisch hier.

Von dem Verkehr auf der Wolga kann sich nur der einen Begriff machen, der ihn mit Augen gesehen hat. Man kann wohl

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 391. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_391.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)