Seite:Die Gartenlaube (1880) 366.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


„Nun, doch wohl in der bisherigen eines Freundes und Verwandten.“

Der junge Mann lächelte bitter.

„Mein Fräulein, Sie haben schwerlich eine Ahnung von der Stellung eines so vollständig überflüssigen Freundes und Verwandten; sonst würden Sie mir nicht zumuthen, länger darin auszuharren, als es die Nothwendigkeit gebietet. Es mag Naturen geben, die sich mit den Annehmlichkeiten und Bequemlichkeiten eines solchen Lebens über seine wahre Bedeutung hinwegtäuschen. Ich habe das nie vermocht. Es ist überhaupt niemals meine Absicht gewesen, dauernd in Ettersberg zu bleiben, und jetzt nun vollends nicht – um keinen Preis der Welt!“

Sein Blick flammte auf bei den letzten Worten. Es war ein seltsamer blitzähnlicher Strahl, den man in diesen kalten Augen für unmöglich gehalten hätte. Er traf das junge Mädchen nur einen Moment lang und erlosch dann sofort wieder, aber es war nicht möglich, zu sagen, was eigentlich darin stand. Jedenfalls nicht die zärtliche Bewunderung, die Hedwig gewohnt war, in einem anderen Blicke zu lesen; dieser blieb ihr völlig räthselhaft.

„Weshalb denn gerade jetzt nicht?“ fragte sie betreten. „Was meinen Sie damit?“

„O nichts, durchaus nichts – Familienbeziehungen, die Ihnen noch fremd sind,“ antwortete Oswald hastig.

Er bereute augenscheinlich seine Uebereilung und zerdrückte, wie im Zorne über sich selbst, einen Zweig, den er von dem nächsten Gebüsch abgerissen.

Hedwig schwieg, aber die Erklärung genügte ihr nicht. Sie fühlte, daß die jähe Heftigkeit und Bitterkeit, mit der er jene Worte hervorgestoßen, einen andern Grund haben mußte. Galten sie ihrem Eintritt in die Familie? Stellte auch dieser neue Verwandte sich ihr gleich im Anfange feindlich gegenüber? Und was sollte der räthselhafte Blick bedeuten? Sie dachte noch immer darüber nach, während Oswald sich abgewendet hatte und nach der entgegengesetzten Richtung blickte.

Da tönte aus der Höhe ein ferner, zarter Laut hernieder; es klang wie Vogelgezwitscher und war doch nur ein einziger, langgezogener Ton.

Hedwig und Oswald blickten gleichzeitig empor; hoch über ihnen flatterte eine Schwalbe, die sich jetzt niedersenkte und dicht über ihren Häuptern hinschoß, sie im pfeilschnellen Fluge fast berührend, um dann von Neuem emporzusteigen. Der ersten folgte die zweite und dritte, und jetzt tauchte aus dem Nebel der Ferne ein ganzer Schwarm hervor, der näher und immer näher heranzog. Sie strichen durch die feuchte, regenschwere Luft, umkreisten Berge und Wälder und flatterten dann nach allen Richtungen hin auseinander, als wollten sie ihre alte Heimath grüßeu – die ersten Boten des Frühlings!

Auf der einsamen Höhe war es plötzlich lebendig geworden. Unaufhörlich und ruhelos strichen die Schwalben darüber hin, bald hoch oben in unerreichbarer Ferne, bald dicht am Boden hinziehend. Mit leichtem Flügelschlage schossen die schlanken, zierlichen Geschöpfe hierhin und dorthin, so blitzschnell, daß das Auge kaum vermochte, ihnen zu folgen, und dabei schwirrte immer wieder jener leise grüßende Ton durch die Luft, der so ganz anders klingt als Nachtigallenschlag und Lerchenjubel, und doch süßer als beides, weil er der erste ist, der den nahenden Frühling verkündet, sein erster Gruß an die erwachende Natur.

Hedwig war aus ihrem Nachsinnen aufgefahren; alles Andere trat plötzlich in den Hintergrund. Weit vorgebeugt, mit strahlenden Augen, rief sie mit dem ganzen Jubel und dem ganzen Entzücken eines Kindes:

„Ach, die Schwalben!“

„Ja wirklich, es sind die Schwalben!“ bestätigte Oswald. „Sie können sich Glück wünschen, so freudig begrüßt zu werden.“

Die kühle Bemerkung fiel wie ein Reif auf die helle Freude des jungen Mädchens, das sich jetzt umwandte und den nüchternen Beobachter mit einem entrüsteten Blicke maß.

„Sie finden es wohl überhaupt unbegreiflich, Herr von Ettersberg, daß man sich über irgend etwas freuen kann. Sie machen sich dessen jedenfalls nicht schuldig, und den armen Schwalben haben Sie sicher nie die geringste Aufmerksamkeit geschenkt.“

„O doch! Ich habe sie stets beneidet um ihren Zug in's Weite, um den freien Flug, den nichts hemmt und fesselt. Es giebt ja doch nichts Höheres im Leben, als die Freiheit.“

„Gar nichts Höheres?“

Die Frage klang gereizt und unwillig. Um so kälter und entschiedener war die Antwort.

„Nein – wenigstens nicht für mich!“

„Das klingt ja, als hätten Sie bisher in Fesseln geschmachtet,“ sagte Hedwig mit unverhehltem Spotte.

„Muß man denn immer gerade in Kerkermauern athmen, um sich nach Freiheit zu sehnen?“ fragte Oswald in dem gleichen Tone, nur daß sich sein Spott bis zum Sarkasmus steigerte. „Das Leben schmiedet Ketten genug, die oft schwerer drücken, als die wirklichen Fesseln eines Gefangenen.“

„Nun, dann muß man diese Ketten abschütteln.“

„Ganz recht, man muß sie abschütteln. Nur ist das unendlich viel leichter gesagt, als gethan. Wer die Freiheit nie entbehrt hat, der begreift es freilich nicht, daß Andere jahrelang ringen und kämpfen, daß sie Alles einsetzen müssen für ein Gut, das sonst als selbstverständlich erachtet wird. Doch das ist im Grunde einerlei, wenn es nur überhaupt errungen wird.“

Er wandte sich ab und schien aufmerksam den Flug der Schwalben zu verfolgen. Es trat ein neues Schweigen ein, das diesmal länger dauerte und die Geduld Hedwig's auf eine noch härtere Probe stellte, als vorhin. Diese Pausen in der Unterhaltung waren ihr ebenso ungewohnt, wie unerträglich. Freilich, dieser Oswald von Ettersberg nahm sich ja alles Mögliche heraus. Zuerst erlaubte er sich eine förmliche Zurechtweisung über die Zusammenkunft mit Edmund; dann erklärte er in der schärfsten, fast beleidigenden Weise, daß er um keinen Preis der Welt im Hause seines Vetters bleiben werde; dann sprach er von den allerunerquicklichsten Dingen, wie Kerker und Ketten, und jetzt schwieg er und hing ganz ungestört seinen Gedanken nach, während sich doch eine junge Dame, die Braut seines nächsten Verwandten, in seiner Gesellschaft befand. Hedwig fand, daß das Maß der Rücksichtslosigkeit jetzt gefüllt sei, und erhob sich.

„Es ist wohl Zeit, daß ich den Rückweg antrete,“ bemerkte sie kurz.

„Wie Sie befehlen!“ Oswald machte Miene, sich ihr anzuschließen, wurde aber mit ungnädiger Handbewegung zurückgewiesen.

„Ich danke, Herr von Ettersberg; ich kenne den Weg ganz genau.“

„Edmund hat mir ausdrücklich aufgetragen, Sie zu begleiten,“ warf Oswald ein.

„Und ich erlasse es Ihnen,“ erklärte die junge Dame in einem Tone, der deutlich zeigte, daß sie die Anordnungen des Grafen nicht für maßgebend erachtete, wo ihr eigener Wille in Betracht kam. „Ich bin allein gekommen und werde auch allein zurückkehren.“

Oswald trat sofort zurück. „Dann werden Sie eilen müssen, nach Brunneck zu kommen,“ sagte er kühl. „Die Wolken dort ziehen immer näher heran, und in einer halben Stunde haben wir den Regen.“

Hedwig warf einen prüfenden Blick nach den drohenden Wolken. „Bis dahin bin ich längst zu Hause, und im schlimmsten Falle mache ich mir nichts daraus, von einem Frühlingsregen durchnäßt zu werden. Die Schwalben haben es uns ja jetzt verheißen – es wird doch endlich Frühling.“

Die letzten Worte klangen halb wie eine Herausforderung, doch der hingeworfene Fehdehandschuh wurde nicht aufgenommen. Oswald verneigte sich nur mit gemessener Artigkeit und verscherzte dadurch den letzten Rest von Nachsicht bei der jungen Dame, die sich nun auch ihrerseits bemühte, die möglichste Kälte in ihren Abschiedsgruß zu legen; dann eilte sie leicht und schnell wie ein Reh davon.

Diese Eile galt indessen nicht der Furcht vor dem Regen; denn sobald die Höhe hinter ihr lag, mäßigte Hedwig ihren Schritt. Sie wollte nur aus der Nähe dieses unerträglichen „Mentors“ kommen, der seine Erziehungsversuche auch auf sie ausdehnte und dabei von einer unerhörten Rücksichtslosigkeit war. Er hatte nicht einmal einen Einwand erhoben, als sie seine Begleitung ablehnte. Es war ihr freilich Ernst damit, aber die Rücksicht auf die einfachste Höflichkeit hätte doch einige Worte des Bedauerns verlangt. Doch nichts von alledem; er war augenscheinlich froh, des lästigen Ritterdienstes überhoben zu sein. Die junge, sehr verwöhnte Dame, die in Folge ihrer Schönheit und vielleicht auch ihres Reichthums überall mit Aufmerksamkeiten und Huldigungen

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 366. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_366.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)