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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


gern gespürt. Unter den Stoffen, aus welchen dasselbe zusammengesetzt war, nahmen die Ausschließlichkeit und Selbstgefälligkeit, die man den Stiftsbewohnern im allgemeinen schuldgab, vortretende Stellen ein. Das Ab- und Eingeschlossensein, welches die Stiftsordnung vorschrieb, verleitete die Herren Stiftler häufig dazu, sich für etwas ganz Besonderes zu halten. Es hatte sich demzufolge im Laufe der Zeit ein hochgradiges Stiftsbewußtsein entwickelt, welches sich mehr und mehr versteifte im Hinblick auf die lange Reihe von ausgezeichneten Männern, welche innerhalb des Stiftes ihre Universitätsstudien gemacht. Eine Anstalt, aus welcher Hölderlin, Schelling, Hegel, Pahl, Schwab, Stälin, Baur, Strauß, Zeller, Schwegler, Vischer, Waiblinger, Mörike, Hauff, Pfizer, Zimmermann, Seeger, Kurz u. s. w. in die Welt, will sagen in die Wissenschaft und in die Literatur ausgegangen, war sicherlich berechtigt, ihren Stolz zu haben. Dieses wohlberechtigte Stiftsbewußtsein kam nun aber, wie die Menschen einmal sind, in den Stiftlern nicht eben liebenswürdig zur Erscheinung. Nämlich in Gestalt einer Großmannssucht und Ueberhebung, welche freilich in den Augen Wissender und Unbefangener weit mehr Belustigendes als Verletzendes hatten. War es doch erheiternd anzusehen, wie so ein Musterstiftler, eingemauert in sein potenzirtes Schwabenthum, in sein bloßes Bücherwissen, in seinen rührenden Mangel an Welt- und Menschenkenntniß, zu einem Selbstbewußtsein, oder, schwäbisch zu reden, zu einem „Krattel“ sich verstieg, welcher ihn selber glauben ließ und andere glauben machen wollte, er hätte den Schelling oder Hegel oder Hölderlin oder sonst eine oder gar mehrere der Berühmtheiten früherer „Promotionen“ im Leibe. Wirklich bedeutende Stiftler haben sich oft genug über diesen „Stiftlerkrattel“ lustig gemacht, aber scharfnasige Leute wollten behaupten, daß auch die bedeutenden, bedeutenderen und bedeutendsten Stiftler das erwähnte „G’schmäckle“ ihr Lebenlang nie losgeworden wären.

Wer es ganz gewiß nie loswurde, war der Hermann Kurz, zur Zeit seines Stiftlerdaseins von seinen Mitbewohnern der Stube „Eisleben“ im Stift „Das blaue Genie“, später in unserem stuttgarter Freundekreis kurzweg „Der Blaue“ genannt. Der Ursprung dieses Kriegs- oder Biernamens ist etwas mythisch. Von Einem, der zugleich mit Kurz die Stube Eisleben „behorstete“, erfuhr ich, daß der Dichter dazumal leidenschaftlich Spaniol geschnupft, dabei blauer Schnupftücher sich bedient habe und in Folge dessen häufig mit angebläuter Nase herumgegangen sei. Da nun der Inhaber dieser Blaunase seinen Commilitonen für ein Genie gegolten, so hätten sie ihn das blaue Genie genannt. Kurz ließ sich das gefallen, nur latinisirte er es, indem er sich zu seinem Privatgebrauche Cäruleus – der Blaue – nannte. Unter diesem Namen hat er sich in seine allerliebste Novellenskizze „Das Wirthshaus gegenüber“ humoristisch eingeführt.

Sechs Jahre nach jenem Tage, wo ich Hermann Kurz zum erstenmal hatte nennen hören, wurde ich in Stuttgart mit ihm persönlich bekannt und befreundet. Die Bekanntschaft wurde gemacht im Hause der Frau von Suckow (Emma von Niendorf), jener liebenswürdigen und anspruchslosen Schriftstellerin, welche ihr Empfangszimmer mit feinstem Takte zu einem neutralen Boden zu machen verstand, auf welchem Menschen der verschiedensten Anschauungen und Richtungen zwanglos einander begegnen konnten. Die Freundschaft wurde gestiftet und befestigt beim „Burger Frank“ und beim „Bürger Ochsenjergle“, also in einem Bierkneiplein und in einer Weinstube, welche in der Zeit von 1843 – 49 allen von der damals jüngeren schwäbischen Generation, die sich zum Liberalismus, Demokratismus, Republikanismus bekannten, vertraut waren und uns wenigen heute noch Lebenden jenes Kreises unvergesslich sind. Denn ach! es gilt, zu klagen:

„Ich habe gekannt manch schönes Kind
Und manchen guten Gesellen!
Wo sind sie hin? Es pfeift der Wind,
Es schäumen und wandern die Wellen …“

Die Biographie, womit Paul Heyse die Sammlung der Werke von Kurz eingeleitet hat, zeugt auf jeder Seite von warmer und feinfühliger Freundschaft. Da und dort wäre jedoch dem Biographen eine genauere Kenntniß schwäbischer Menschen und Dinge zu wünschen gewesen. Auch ist Heyse über mehr als einen wichtigen Punkt und Wendepunkt in dem Lebenslaufe des schwäbischen Poeten hinweggegangen mit einem Stillschweigen, welches recht fein diplomatisch oder meinetwegen pietätvoll sein mag, aber vieles unerklärt lässt. Hier ist jedoch zu Erklärungen nicht der Ort, wie denn diese Zeilen überhaupt nicht darauf ausgehen, die biographische Arbeit Heyse’s zu ergänzen. Nur auf einen Punkt will ich flüchtig hindeuten. Der Lebensbeschreiber hat wiederholt und ganz richtig betont, daß Kurz kein vom Glücke begünstigter Mann gewesen. Aber eine andere Frage ist, ob diese Thatsache nur den Verhältnissen schuldzugeben war. Am Ende aller Enden bleibt es doch immer wieder wahr, daß ein jeder seines Glückes eigener Schmied sei und sein müsse, und da möchte nicht zu leugnen sein, daß unser Dichter als ein ungeschickter und lässiger Schmied sich erwiesen. Allerdings muß sogleich beigefügt werden, daß diese Lässigkeit und dieser Unschick zu seinem Wesen gehörten. Er war ein Träumer all sein Lebtag. Er konnte es nie dazu bringen, aus der Traumwelt, welche er sich in seinem Innern zurechtgemacht, entschieden und entschlossen herauszugehen, und ich bin überzeugt, daß es der oben gekennzeichnete „Stiftlerkrattel“ gewesen, welcher ihn wider Wissen und Willen verführte, sich für so etwas Apartes zu halten, daß er gar nicht nöthig hätte, mit der Prosa des Lebens sich auseinanderzusetzen.[1] So ist es dann gekommen, daß er jede der ihm gebotenen Gelegenheiten, bei guter Zeit sich eine festumfriedete Existenz zu gründen, vornehm vorübergehen ließ. Ich möchte aber dieses „vornehm“ nicht allein im tadelnden Sinne verstanden wissen, sondern auch im lobenden.

Ja, dieser Sohn der alten Reichsstadt Reutlingen war eine vornehme Natur und ist es in allen Bedrängnissen seines Daseins geblieben. Er ist im ganzen Wortsinn eine „anima candida“, eine reine Seele, gewesen und man darf auch von ihm sagen, was von seinem größten Landsmann mit vollem Rechte gesagt worden, daß nämlich „tief unter ihm das Gemeine im wesenlosen Scheine gelegen“. Daher wirkte auch das ihm anhaftende „Stiftsg’schmäckle“ nicht verletzend. Seine Milde und Duldsamkeit verleugneten sich selten. Seine Entrüstung mußte schon sehr groß sein, wenn sie in heftiger Form hervorbrach. Sonst war dieser hochbegabte, mit so vielseitigem Wissen ausgestattete Mann mild im Urtheilen, maßvoll im Tadeln. Die schnöde deutsche Unsitte der Nergelei lag ihm fern. Männer seines Schlages müssen gewiß immer schmerzlicher vermisst werden in einer Zeit, wo jeder dumme Junge sich zum Kritiker berufen glaubt und wo Gesellen, welche nie etwas, und wäre es auch nur das Geringste, geleistet haben und nie etwas leisten werden, sich erfrechen dürfen, den Geifer ihres grünen Neides gegen alle Autoren zu verspritzen, welche etwas können und der Nation etwas sind. Wie noch so manches andere Gute könnten die Deutschen auch literarischen Anstand von den Franzosen lernen, wenn unsere mehr oder weniger lieben Landsleute es nicht vorzögen und nicht von jeher vorgezogen hätten, den westlichen Nachbarn nur ihr Schlechtes und Schlechtestes abzugucken. In Frankreich ist es undenkbar, daß literarische Gassenbuben die großen Gestalten der Literatur mit Koth bewerfen dürften. Bei uns dürfen sie es und können dabei sogar der heimlichen oder offenen Zustimmung vonseiten des oberen und des unteren Pöbels sicher sein.

Einen wissenden Mann hab’ ich Kurz genannt und das war er in That. Es gereichte dem höheren Schulwesen Wirtembergs von jeher zur Ehre, daß jedes studirende Landeskind, so es wollte,

  1. Bestätigung dieser Ansicht giebt das „Nachlaß“ überschriebene Gedicht:

    „Ich werde so von hinnen eilen
    Mit tief geschlossenem Visir,
    Und ein paar arme stumpfe Zeilen
    Die bleiben dann der Welt von mir.
    Nach diesen werden sie mich wägen,
    Verdammung sprechen oder Lob,
    Nicht ahnend, ach, mit welchen Schlägen
    Sich oft mein Herz in meinem Busen hob;
    Wie ich am schönen Tag, in guter Stunde
    Verschmelzend Geist in Geist verwebt,
    Mit einem kleinen Menschenbunde
    Ein ganzes, volles Leben durchgelebt;
    Wie wir das Herz, wie wir die Welt gemessen,
    Wie manch gewichtig Wort in Lethe’s Wellen fiel
    Und wie wir dann in seligem Vergessen
    Manch kecken Scherz geübt, manch übermüthig Spiel.
    Vor solchem Leben frisch und reich
    Wie sind die Lettern todt und bleich!
    Doch was ich mir, in mir gewesen,
    Das hat kein Freund geseh’n, wird keine Seele lesen.“

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