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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


Da geschah es, daß der hochgestellte und liebenswürdige Cavalier Peter Michailowitsch Nikitine ihre Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Sein Wesen und seine Bildung waren die treuesten Reminiscenzen an ihr Vaterland, die sie bisher in der Fremde gefunden hatte, und erweckten schon dadurch in ihr mächtige Sympathien. Er zeigte sich bald von Leidenschaft für sie ergriffen und säumte nicht lange, sie davon in allen Formen der Aufmerksamkeit und Beredsamkeit zu überzeugen.

Léonide gestand sich, daß sie Nikitine liebe. Was man überall von seinen Beziehungen zu Frauen erzählte, war wohl geeignet, sie einzuschüchtern, und hielt das Bekenntniß ihrer Gefühle ihm gegenüber zurück. Welche Frau aber, die geliebt wird, schmeichelt sich nicht, besonders wenn sie selbst liebt, daß es ihr gelungen sei, ein flatterndes Herz in sicherer Alleinherrschaft endlich festzuhalten?

Dennoch überkamen sie immer wieder Zweifel und Bedenken, wenn sie ihm ein Zeichen der Übereinstimmung mit seinen Empfindungen geben sollte. Bei dem Ernst und der Frömmigkeit ihres Gemüthes fühlte sie, daß sie damit ein Schicksal für ihr ganzes Leben herausfordern würde. Von einer blos frivolen und leichtsinnigen Auffassung solcher Verhältnisse hatte sie keine Ahnung und würde den Gedanken daran mit Abscheu zurückgestoßen haben. Sie war von schlichter, einfacher Denkungsweise und wußte sich unerfahren: sie suchte einen Rath.

Vermählte Frauen sind unerbittlich grausam gegen eine Frau, die nicht in guter Ehe lebt. Immer muß der Gattin die Schuld zufallen. Die Frauen scheinen sich in solchem Falle durch harte Verdammungsurtheile zu entschädigen und zu belohnen für die Entbehrungen, Kämpfe und Entsagungen, denen sie selbst im Leben unterworfen waren. Unter den Frauen der großen Gesellschaft fand Léonide keine, von der sie nicht hätte voraussetzen müssen, daß sie ein Bekenntniß des Unglücks in der Ehe oder gar der Neigung für einen fremden Mann mit unbarmherzigem Spotte aufgenommen hätte.

Die Gräfin Varinka Tschatscherin wäre vielleicht die Einzige gewesen, von der ein weiser Zuspruch erwartet werden konnte. Allein sie war zu offen mit Nikitine befreundet, um ein unparteiisches Urtheil über ihn fällen zu können; außerdem war sie zu alt, um den Ernst und die weithin zielende Gewalt eines Liebessturmes, wie er sich in der Seele der jungen Frau erhoben hatte, ganz zu begreifen.

Als aber nun mit einem Male die Töchter Towaroff’s zu Hausgenossinnen der Gräfin wurden, ging in Léonide die Zuversicht auf, an diesen Mädchen, wie jung sie auch waren, einen Anhaltspunkt zu finden. Sie selbst war ja noch ganz mädchenhaft. Die holde Unverdorbenheit dieser dem Weltleben bisher entfremdet gebliebenen Kinderherzen, der Reiz, den die Verschiedenheiten ihres Charakters wie ihres Äeußern bei gleicher Noblesse der Gesinnung boten, bewirkten, daß Léonide instinctiv Liebe und Zutrauen empfand. Keineswegs war sie sofort entschlossen, ihre verhängnißvolle Situation vor das Forum dieser unschuldigen Herzen zu bringen; allein mit Matrjona und Milinka hatte sie zugleich den Neffen der Gräfin, Sergey, kennen gelernt, und obgleich er Ohr und Auge nur für die Töchter seines Freundes zu haben schien, so leuchtete von seiner Stirn und sprach aus seinen Worten Einsicht und Lebenskenntniß.

So entschied sich Léonide allmählich für den Gedanken, diese drei ihr so schnell werth gewordenen Menschen in das Geheimniß ihrer Lage zu ziehen. Freilich wäre allein Sergey competent gewesen, zu hören und zu urtheilen, allein sie brachte es nicht über sich, in einem tête-à-tête mit einem ihr eigentlich fremden Manne so ernste und zarte Geständnisse über die Lippen zu bringen.

Sie lud einige gleichgültige Personen zum Thee ein und bat insgeheim Sergey und die Mädchen, die sie hinzugezogen hatte, die Anwesenheit der Andern zu überdauern. Als sie mit den Freunden allein geblieben war, erzählte sie ihnen ihren bisherigen Lebensgang. In dem Bericht zu dem Zeitpunkt gekommen, da sie Nikitine kennen gelernt, stockte sie, erröthete, aber ihre Miene drückte mehr noch die bitterste Verzweiflung, als mädchenhafte Scheu aus. Matrjona und Milinka nahmen sie in ihre Mitte und umschlangen sie; Léonide, sich besinnend, wie ernst der Augenblick und daß er nicht einem unnützen Gespräche diente, bekannte endlich mit stolzer Freiheit, daß sie einem Manne eine größere gesellige Annäherung gestattet habe, als Herkommen und Sitte dies unter gewöhnlichen Verhältnissen erlauben, daß aber die ihrigen ungewöhnlicher Art seien, sie deshalb seine Leidenschaft angehört, die eigene jedoch, so heiß sie sei, ihm noch verschwiegen habe. Sie nannte nicht seinen Namen; sie hütete sich, ein Merkmal von ihm anzugeben, aber sie verschwieg nichts, was von der Gluth seiner und ihrer Liebe überzeugen konnte. Jetzt wollte sie von den Freunden Hülfe, eine Lehre für ihr Handeln, eine Richtschnur für die Zukunft.

„Hätte ich ihm die Erklärung schon gegeben,“ sagte sie, „die er so heiß wünscht, die jetzt zum ersten Male von meinen Lippen kam, die Erklärung, daß ich ihn liebe, so bliebe nichts mehr zu rathen und zu sagen. Blindlings würde ich den Bestimmungen des Geliebten gehorchen. Der Ausspruch 'ich liebe Dich' wäre mein letztes, mein ganzes Schicksal. Darum zerreißt sich mein Herz wie an einem Marterpfahl an dem Zweifel, ob ich das Wort sprechen kann und darf; darum verlange ich eine Entscheidung von den einzigen Menschen hier, die mir gut sind, denen ich mich anvertraue.“

Betroffen schwiegen die drei Zuhörer.

„Meine Zweifel,“ fuhr Léonide fort, „entspringen nicht aus einem Gedanken an meine Pflicht als vermähltes Weib. Ich habe eine solche Pflicht nicht übernommen. Man brachte mich vor einen Civilbeamten, der eine Formalität vornahm, die ich nicht verstand und die mich nicht band. Das Jawort am Altare hätte mich für ewig gebunden, und unter allen Qualen, bis in den bittersten Tod wäre ich ihm treu geblieben – aber ich habe es nicht gesprochen. Die Menschen haben es zu hören geglaubt; Gott hat es nicht gehört. Meine Zweifel entspringen aus der Angst, ein Verhängniß heraufzubeschwören, ohne die Kraft der Liebe, die mich darüber hinwegtrüge, im Geliebten wieder zu finden, vor Allem aber entspringen sie aus der Furcht, ein Unrecht zu begehen, das mir der Himmel niemals vergeben würde.“

(Schluß folgt.)




Blätter und Blüthen.


Und doch steht sie da!
(Zur Illustration S. 337.)

„Ei, gar so geschäftig?
Wohin so geschwind?
Wie theilest Du kräftig,
Bergmädel, den Wind!

O halte, ich bitte,
Ein wenig nur still
Die eiligen Schritte –
Du weißt, was ich will:

Wie schön, wenn Du Wilde,
So wie Du da gehst,
Im fertigen Bilde
Leibhaftig da stehst!

Du mußt mir wohl taugen
Mit aller Gewalt:
Ich fang’ mit den Augen
Die ganze Gestalt.“

O kommt solchen Mannen,
Ihr Mädels nicht nah’!
Wie lief sie von dannen –
Und doch steht sie da!

Fr. Hfm.




Berichtigung. Unter den beiden Ansichten des neuen Anhalter Bahnhofes in Berlin (in unserer Nr. 18) ist als Name des Zeichners nicht: Neubauer, sondern: Fritz Neubronner er zu lesen.




Kleiner Briefkasten.

Norwegen. Allerdings hat E. Marlitt, wie bereits früher mitgetheilt, einen neuen Roman für die „Gartenlaube“ unter der Feder. Ueber den Termin des Erscheinens desselben läßt sich noch nichts Bestimmtes sagen. – Von der erst vor einigen Wochen im Verlage unseres Blattes erschienenen Buchausgabe von „Im Schillingshofe“ (Preis 9 Mark) ist übrigens die erste Auflage bereits vergriffen und die zweite soeben im Druck fertig geworden.

Paul Withow in Rußland. Sie dürften Ihren Zweck durch eine Annonce in dem „Börsenblatt für den deutschen Buchhandel“ am besten erreichen.

Frl. M. R. in Neurode. Der Name der Verfasserin ist Redactionsgeheimniß.



Verantwortlicher Redacteur Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 348. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_348.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2023)