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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


„Nein.“

„Wie es Dir beliebt! Adieu!“

Er ging nach der Thür, hatte sie aber noch nicht erreicht, als Oswald rasch aus der Fensternische hervortrat und ihm folgte.

„Edmund!“

„Nun?“ fragte dieser, indem er stehen blieb.

„Ich bleibe auf jeden Fall im Seitenflügel, aber – ich danke Dir.“

Der junge Graf lächelte.

„Wirklich? Das klingt ja fast wie Abbitte. Ich glaubte gar nicht, daß Du so warm denken könntest. Oswald –“ er legte plötzlich mit vollster Herzlichkeit den Arm um die Schulter seines Vetters – „ist es wahr, daß Du mich hassest, weil das Schicksal mich zum Majoratserben gemacht hat, weil ich zwischen Dir und der Herrschaft in Ettersberg stehe?“

Oswald sah ihn an. Es war wieder jener seltsame durchdringende Blick, der in den Zügen des jungen Erben irgend etwas zu suchen schien, diesmal aber ging das Forschen unter in einem Strahl warmer, voller Empfindung, die sich durch alles Andere hindurch Bahn brach.

„Nein, Edmund!“ war die feste, ernste Antwort.

„Ich wußte es ja,“ rief Edmund. „Und nun wollen wir die Mißverständnisse ruhen lassen! Was aber unsere Reisebekanntschaft betrifft, so sage ich es Dir voraus, ich werde meine ganze, so oft gerühmte Liebenswürdigkeit zusammennehmen, um in Brunneck Effect zu machen, trotz Deines finsteren Gesichtes und trotz der Ungnade meiner Mutter. Und ich werde Effect machen – verlaß Dich darauf!“

Damit ergriff er den Vetter beim Arm und zog ihn lachend mit sich fort.




Brunneck, das Eigenthum des Oberamtsrath Rüstow, lag nur zwei Stunden von Ettersberg entfernt und war schon seit einer Reihe von Jahren in den Händen seines jetzigen Besitzers. Es war ein bedeutendes, umfangreiches Gut, mit mehreren Vorwerken und ausgedehnten Betriebsanlagen. Der Oberamtsrath galt als Landwirth für eine Autorität ersten Ranges, und da er überdies Besitzer eines der schönsten Rittergüter der Provinz war, so war seine Stellung in der Umgegend eine sehr einflußreiche. Mit der großen Ettersberg’schen Herrschaft konnte sich Brunneck freilich nicht messen, dennoch wurde allgemein behauptet, daß der Reichthum Rüstow’s dem seiner gräflichen Nachbarn nichts nachgebe. Die wirthschaftlichen Anlagen, die er auf seinem Gute geschaffen und mit rastloser Thätigkeit noch immer vermehrte, hatten sich im Laufe der Zeit vorzüglich bewährt und ließen sein Vermögen immer bedeutender anwachsen, während in Ettersberg die Bewirthschaftung fast gänzlich in den Händen der Beamten lag und überhaupt in einer so vornehm sorglosen Weise geführt wurde, daß von einer wirklich nutzbringenden Verwerthung der Güter kaum die Rede sein konnte.

Wie schon erwähnt, waren die beiden Familien mit einander verschwägert, aber diese Beziehung wurde von beiden Seiten mit der gleichen Hartnäckigkeit und Erbitterung ignorirt. In seiner jetzigen Stellung hätte der Oberamtsrath es wohl eher wagen dürfen, um die Hand eines Fräulein von Ettersberg zu werben. Damals freilich, vor mehr als zwanzig Jahren, war der junge Landwirth, der sich in Dornau mit seinem Berufe vertraut machen sollte und dem für die eigene Zukunft nur ein sehr bescheidenes Vermögen zur Seite stand, keine passende Partie für die Tochter des Hauses gewesen, aber die Liebe der jungen Leute fragte nicht nach Vorurtheilen und Hindernissen.

Als man sie mit voller Härte trennte, als alle Bitten, alle Kämpfe sich als nutzlos erwiesen, wußte Rüstow seine Braut, die inzwischen mündig geworden war, zu einem entscheidenden Schritte zu bestimmen. Sie verließ das elterliche Haus und die Trauung fand, zwar wider den Willen des Vaters, aber in aller Form statt. Das junge Paar hoffte wohl, daß, wenn der Schritt einmal unwiderruflich gethan sei, die Verzeihung folgen werde, aber diese Hoffnung erwies sich als trügerisch. Weder die wiederholten Annäherungs- und Versöhnungsversuche der jungen Frau, noch die Geburt einer Enkelin, noch selbst die Veränderung in den Verhältnissen Rüstow’s, der sich ungemein rasch zu Stellung und Reichthum emporarbeitete, vermochten es, den Zorn des Vaters zu besänftigen. Er stand allzu sehr unter dem Einfluß seiner Verwandten, und diese verabscheuten nun einmal die bürgerliche Heirath und bestärkten ihn immer wieder in seiner Härte.

Frau Rüstow starb, ohne daß eine Versöhnung erfolgt war, und mit ihrem Tode hörte überhaupt jede Möglichkeit dazu auf. Ihr Gatte hatte von jeher die vollste Abneigung gegen eine Familie bekundet, die seinen Stolz und sein Selbstgefühl so tief verletzte. Nur aus Liebe zu seiner Frau hatte er die Versöhnungsversuche überhaupt geduldet und jetzt, wo diese Rücksicht fortfiel, stellte er sich seinem Schwiegervater und dessen ganzer Verwandtschaft mit einer Schroffheit und Feindseligkeit gegenüber, die jede Beziehung ausschloß. Die Folge davon war jenes Testament, das mit vollständiger Uebergehung der Enkelin und ohne ihrer und ihrer Mutter auch nur zu erwähnen, Dornau dem Majoratsbesitze der Familie zusprach. Dieses Testament nun wurde von Rüstow angefochten, der gegen das völlige Ignoriren seiner Ehe protestirte und seine Tochter als rechtmäßige Erbin ihres Großvaters anerkannt wissen wollte. Ganz aussichtslos war dieser Proceß nicht; denn der Verstorbene hatte es unterlassen, die Enterbung ausdrücklich auszusprechen. Er hatte sich damit begnügt, die Enkelin einfach als nicht existirend anzusehen, und demgemäß über sein Vermögen verfügt. Dies und einige Formfehler, die sich noch nachträglich herausstellten, machten das Testament in der That anfechtbar. Jedenfalls war der Ausgang der Sache sehr ungewiß, und die Advocaten der beiden Parteien hatten volle Gelegenheit, ihren Scharfsinn daran zu üben.

Das Herrenhaus von Brunneck war weder so weitläufig noch so imposant, wie das gräfliche Schloß zu Ettersberg, aber das geräumige und alterthümliche Gebäude machte dennoch einen höchst stattlichen Eindruck. In der inneren Einrichtung war zwar jeder Luxus vermieden, aber sie entsprach doch vollständig der Stellung und dem Vermögen des Besitzers.

In dem großen Balkonzimmer, wo sich die Familie gewöhnlich zusammenfand, saß heute eine Dame, mit der Durchsicht einiger Haus- und Wirthschaftsrechnungen beschäftigt. Es war eine ältere Verwandte des Gutsherrn, welche seit dem vor acht Jahren erfolgten Tode seiner Frau dem Haushalte vorstand und bei seiner Tochter Mutterstelle vertrat. Sie beugte sich über die Rechnungen und machte einige Notizen, als die Thür hastig geöffnet wurde und der Oberamtsrath selbst eintrat.

„Ich wollte, der Kukuk holte sämmtliche Processe, Acten und Gerichte, inclusive der Herren Advocaten!“ rief er und ließ die Thür so rücksichtslos hinter sich in’s Schloß fallen, daß seine Cousine zusammenfuhr.

„Aber Erich, wie können Sie mich wieder so erschrecken! Seit dieser unglückselige Proceß begonnen hat, ist gar nicht mehr mit Ihnen auszukommen. Sie haben nichts Anderes mehr im Kopfe. Können Sie den Ausgang denn nicht geduldig abwarten?“

„Geduldig?“ wiederholte Rüstow mit einem bitteren Auflachen. „Ich möchte den sehen, der da nicht die Geduld verliert! Das ist ein ewiges Hin- und Herziehen, ein ewiges Protestiren und Appelliren. Ueber jeden Buchstaben des Testamentes giebt es Erörterungen, Eingaben, Beweisführung, und dabei ist die Geschichte noch genau auf demselben Fleck, wie vor sechs Monaten.“

Damit warf er sich in einen Sessel. Erich Rüstow war ein Mann in den besten Jahren, dem man es ansah, daß er in seiner Jugend schön gewesen sein mußte. Jetzt freilich waren Stirn und Antlitz tief durchfurcht und trugen deutlich die Spuren all der Sorgen und Erfahrungen eines rastlos thätigen Lebens. Aber die Erscheinung war noch immer eine stattliche und wäre auch anziehend gewesen, wenn nicht ein Zug von Ungestüm, der bei jeder Gelegenheit hervorbrach, jenen Eindruck beeinträchtigt hätte.

„Wo ist Hedwig?“ fragte Erich nach einer kurzen Pause.

„Sie ist vor einer Stunde ausgeritten,“ antwortete die Cousine, die ihre Notizen wieder aufgenommen hatte.

„Ausgeritten? Das hatte ich ihr ja für heute verboten. Bei dem plötzlich eingetretenen Thauwetter sind die Wege grundlos, und oben in den Bergen liegt noch tiefer Schnee.“

„Allerdings, aber Sie wissen ja, daß Hedwig gewöhnlich das Gegentheil von dem thut, was sie soll.“

„Ja, das ist merkwürdig; das thut sie,“ sagte der Gutsherr, der das in der That nur merkwürdig zu finden schien, ohne weiter darüber in Zorn zu gerathen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 334. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_334.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)