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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)

auch das Reichsoberhandelsgericht, wenn derselbe solche Sicherheitsvorkehrungen oder Maßregeln anzuwenden unterließ, „welche nach Gesetz, Wissenschaft, Erfahrung, allgemeiner vernünftiger Verkehrsanschauung zur Verhütung von Unfällen erforderlich sind“, ebenso, wenn er eine unrichtige, also jenem Zweck nicht entsprechende Anordnung des Betriebsunternehmers selbst wider besseres Wissen oder fahrlässiger Weise zur Ausführung brachte, ohne dagegen Vorstellung zu machen; wenn er untaugliche Maschinen, welche Jener angeschafft, ohne weiteres zur Verwendung bringen ließ etc. Kann der Angestellte beweisen, daß er den Betriebsunternehmer auf das Ungenügende oder Zweckwidrige gewisser Vorrichtungen aufmerksam gemacht, Letzterer aber nichts desto weniger darauf beharrt hat, so ist der Angestellte schuldlos. Die Klage ist dann gegen den Betriebsunternehmer selbst zu richten, der nach allgemeinen Landesgesetzen für solche Verschuldungen an erster Stelle verantwortlich ist.

Ein „Verschulden durch Unterlassung“, also einen Grund zur Haftbarkeit, erblickt das Reichsoberhandelsgericht ferner darin, wenn ein Betriebsleiter die Benutzung einer von den Arbeitern hergestellten ungeeigneten und gefährlichen Arbeitsvorrichtung (z. B. eines zu schwachen Gerüstes) nicht verhindert oder verbietet, überhaupt gegen ein ungeeignetes Verhalten der Arbeiter, durch welches sie sich selbst oder ihre Mitarbeiter in Gefahr bringen können, einzuschreiten unterläßt.

Ja schon wenn der Betriebsleiter verabsäumt, solche Arbeiter, die er zu besonders gefährlichen Verrichtungen verwendet, über diese Gefahr, die Schutzmittel dagegen und das von ihnen bei der betreffenden Verrichtung einzuhaltende Verfahren zu belehren, ist dies nach einem Erkenntniß des Reichsoberhandelsgerichts ein ausreichender Grund, den Betriebsleiter für schuldig und folglich den Betriebsunternehmer für haftbar wegen der dadurch veranlaßten Körperverletzung zu erklären – es wäre denn, daß die zu der gefährlichen Arbeit verwendete Person, wie dem Betriebsleiter bekannt war, die dazu erforderliche Sachkunde und Erfahrung bereits besaß.

Der Kläger muß allerdings die Verletzung auf irgend eine schuldbare Handlung oder Unterlassung beim Betriebe seitens eines der Angestellten zurückführen; allein auf der andern Seite genügt es, wenn nur die durch die Schuld des Angestellten herbeigeführte Möglichkeit einer solchen Verletzung nachgewiesen wird. „Wollte man,“ sagt das Reichsoberhandelsgericht, „von dem Kläger den strengen Nachweis verlangen, daß die Verletzung auf keine andere Weise eintreten konnte, als durch ein schuldbares Verfahren des Angestellten, so würde die Haftpflicht des Unternehmers beinahe in allen Fällen rein illusorisch sein.“ Beispielsweise: wenn der mit Prüfung und Herrichtung der Sicherheitslampen in einem Kohlen- oder Bergwerke beauftragte Betriebsbeamte nachweisbar hierbei nachlässig gehandelt hat und es ist nun ein Unfall durch eine schlecht hergerichtete Sicherheitslampe entstanden, so ist die Haftpflicht begründet und es bedarf nicht des Nachweises, daß dadurch allein, nicht etwa durch ungeschickte Handhabung der Lampe seitens des Verletzten der Unfall herbeigeführt ward. Nur wenn der Betriebsunternehmer nachweisen kann, daß auch bei völlig guter Beschaffenheit der Lampen der Unfall dennoch (durch eine unabwendbare höhere Gewalt) eingetreten sein würde, ist derselbe haftfrei.

Natürlich sind die Fälle nicht selten, wo es ungewiß erscheint, ob die Verletzung eines Arbeiters durch dessen eigenes Verschulden oder durch das Verschulden eines Angestellten eingetreten sei. Das Reichsoberhandelsgericht nimmt nun an, daß überall da keine Haftpflicht eintrete, wo zwar ein Verschulden des Angestellten vorhanden war, wo aber trotzdem die Verletzung (beziehentlich Tödtung) nicht erfolgt wäre, wenn nicht der Arbeiter selbst pflichtwidrig gehandelt hätte. Wenn also z. B. eine Maschine in zu schnellen Gang gebracht und dadurch ein Arbeiter verletzt worden ist, der Verletzte aber der Maschine unbefugter Weise oder gegen erfolgte Warnung zu nahe gekommen ist, so gilt hier die Verletzung als durch die eigene Schuld des Arbeiters herbeigeführt. Ebenso, wenn eine Grube polizeiwidrig offen stand, der Arbeiter aber, der hineinstürzt, wider Verbot und Warnung jenen Ort betrat. Daß der Arbeiter durch sein verbotswidriges oder überhaupt schuldbares Verhalten sich selbst die Verletzung zugezogen habe, muß aber vom Beklagten bewiesen werden. Wenn z. B. – erklärt ein Erkenntniß des Reichsoberhandelsgerichts – ein Arbeiter auf einem fehlerhaft erbauten Gerüste steht und dort eine Handlung vornimmt, die verbotswidrig ist, und das Gerüst bricht, so muß erst bewiesen werden, daß der Zusammenbruch des Gerüstes in Folge dieser verbotswidrigen Handlung des Arbeiters erfolgt sei. Kann dies nicht bewiesen werden, so gilt die fehlerhafte Construction des Gerüstes als Ursache des Unfalles, und der Betriebsunternehmer bleibt dafür haftpflichtig.

Die angeführten Beispiele werden genügen, um darzuthun, in welch hohem und freiem Sinne das Reichsoberhandelsgericht seiner Zeit das Haftpflichtgesetz ausgelegt und angewendet hat. Daß das an seine Stelle getretene Reichsgericht auch diese Erbschaft seines Vorgängers voll und ganz antreten werde, konnte im voraus nicht zweifelhaft sein. Und in der That finden wir schon in den während dieser kurzen Zeit seiner Thätigkeit ergangenen Erkenntnissen des Reichsgericht in Haftpflichtsachen mehrere höchst bemerkenswerthe Entscheidungen. In einer derselben, vom 2. December 1879, wird nicht nur der auf Eisenbahnen bezügliche § 1 des Haftpflichtgesetzes unbedingt auch auf Pferdebahnen angewendet, sondern wird ferner auch der Grundsatz ausgesprochen, daß eine Eisenbahngesellschaft auch für solche Unglücksfälle aufkommen müssen, welche durch bloßen „Zufall“ (nicht „höhere Gewalt“) veranlaßt waren.

„Höhere Gewalt“, heißt es in den Entscheidungsgründen, „bezeichnet, im Unterschiede vom Zufall, ein äußeres, durch elementare Naturkräfte, die schädigende Wirkung von Naturereignissen, oder durch Menschenkräfte, die Handlungen dritter Personen herbeigeführtes Ereigniß, welches den Unfall verursacht hat und dessen schädigende Wirkung nach der allgemeinen Verkehrsanschauung durch geeignete Vorkehrungen zu vermeiden unmöglich ist.“ Es handelte sich im gegebenen Falle um die Beschädigung eines fünfjährigen Knaben, der, gerade als die Pferdebahn herankam, vom Trottoir auf das Geleise herabsprang und so unter die Pferde gerieth. Das Reichsgericht scheint nun diese Bewegung des Kindes, die den Unfall herbeiführte, als einen „Zufall“ zu betrachten. Eine „eigene Verschuldung“ sei nicht anzunehmen, weil nach sächsischem Recht (der Fall kam in Leipzig vor) bis zum siebenten Jahre die „Kindheit“ dauert, welche jede „Handlungsfähigkeit“, folglich auch jede „Verschuldung“ ausschließt. Dahingegen unterscheidet das Reichsgericht streng zwischen Verletzungen, die wirklich beim Eisenbahnbetriebe, und solche, die zwar auf dem Terrain einer Eisenbahn, doch ohne Zusammenhang mit dem Betriebe derselben vorgekommen, und schließt die letzteren unbedingt von der Unterstellung unter das Haftpflichtgesetz aus.

Ein anderer interessanter Fall ist folgender: Ein junger Mensch von nicht ganz vierzehn Jahren, an eine Kreissäge gestellt, um daran größeren Knochenplatten eine bestimmte Gestalt zu geben, war beim Herbeilangen neuer Platten von der Säge am Arme erfaßt und dieser ihm verstümmelt worden. Hier entstand die Frage: Lag eigene Verschuldung oder Verschuldung des Angestellten vor, der den Knaben an die Kreissäge gestellt hatte? Das Reichsgericht nahm letzteres an, indem es sagte: „Schon in der Anstellung des noch nicht vierzehnjährigen Knaben an der Cirkelmaschine liegt das Verschulden des von dem Knaben erlittenen Unfalls. Eine Cirkelsäge, sie mag groß oder klein sein, ist eine Maschine, deren Gebrauch die größte Vorsicht erfordert und bei der geringsten Unvorsichtigkeit durch die Schnelligkeit ihrer Umdrehungen den an ihr beschäftigten Arbeiter in die Gefahr einer schweren Verletzung bringt. Der gänzlich unerfahrene, mit der Handhabung einer Kreissäge nicht im Mindesten vertraute Knabe sollte auf einmal durch eine Unterrichtung des Werkführers die erforderliche Geschicklichkeit im Gebrauche der Kreissäge und die zur Vermeidung einer Gefahr der Verletzung erforderliche Vorsicht erlangt haben!“ Hiernach also habe der Werkführer durch Anstellung des Knaben an der Kreissäge dessen Unglück verschuldet, umsomehr, als er gar nicht abgewartet, ob derselbe mit der Maschine richtig umgehen werde, vielmehr sich alsbald fortbegeben und den Knaben ohne Aufsicht die gefahrvolle Arbeit habe vollführen lassen. Das Reichsgericht findet diesen Thatbestand, der den Anspruch auf Schadenersatz begründet, dermaßen „für bewiesen zu erachten“, daß nach seiner Ansicht „es nicht erst, wie seitens der Vorinstanzen geschehen, einer besonderen Beweisauflage mittelst Erkenntnisses bedurfte“.

Eine ähnliche Collision zwischen fremder und eigener Verschuldung schien vorzuliegen, als in einer Glashütte ein Gerüst zusammengestürzt und ein Arbeiter dadurch schwer beschädigt

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 323. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_323.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)