Seite:Die Gartenlaube (1880) 315.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)

Wania meldete, das ganze Dorf wäre in Aufruhr gebracht, und zwar durch denselben Boten, der soeben mit den Postsendungen angekommen war.

Dichter Schneefall war nämlich wieder eingetreten; die Straßen waren auf's Neue verweht worden, und der Postschlitten, obgleich mit mehr Pferden als gewöhnlich bespannt, hatte sich in eine Vertiefung gesenkt. Schreiend, wimmernd und fluchend hatten sich die zahlreichen Passagiere so weit aus dem Schnee herausgearbeitet, um nicht sogleich ersticken zu müssen, doch konnten sie sich nicht selbst befreien, man mußte ihnen mit den nöthigen Gerätschaften zu Hülfe kommen. Einem der Postillone war es gelungen, ein Pferd loszuspannen, das Briefpacket an sich zu nehmen und reitend das Dorf zu erreichen. Nun sollte Alles, was Hände und Schaufeln besaß, auf so vielen Fuhrwerken, wie nur immer aufzutreiben, zur Unglücksstätte hinauseilen.

Sergey Iwanowitsch ließ sogleich satteln, beschleunigte durch sein Erscheinen, sein Zureden und seine zweckmäßigen Befehle die Bereitmachung der Leute und setzte sich an die Spitze des hülfebringenden Zuges.

Der Anblick und das Anhören der Reisenden war schrecklich. Sie waren beflissen, bei gehemmter Bewegung in grimmiger Kälte sich vor einschlafender Betäubung und folglich vor Erfrieren hauptsächlich durch den Gebrauch ihrer Lungen zu schützen. Die Jammertöne verstummten jedoch sogleich, als die Ankunft des Zuges Gewißheit der Befreiung gab; es schien, sobald sie sich gerettet wußten, daß das Unbehagen einer Calamität, die nothwendig zur Natur ihres „heiligen“ Rußlands gehörte, sie nicht weiter anfechte.

Mitten im Arbeiten der Leute vernahm Sergey eine Stimme, die ihm bekannt schien, ohne daß er sich ihres Besitzers sogleich zu entsinnen gewußt hätte. Er legte mit Hand an in der Richtung, aus welcher die Stimme hervordrang, und hatte bald das Vergnügen, daß ihm Herr Doctor Hesekiel Nazarus in die Arme fiel.

Der arme Deutsche schien der Einzige zu sein, auf welchen die Schrecken der Lage auch in moralischer Beziehung einwirkten. Auf die Beine gebracht und auf sichern Boden gestellt, rührte er sich nicht mehr vom Platze. Sein Gesicht drückte neben physischem Schmerz auch trauriges Erstaunen aus, daß solche Ereignisse unter Gottes Himmel überhaupt möglich seien. Nachdem er lange mit Verwunderung im Kreise umhergesehen, blieben seine Augen auf Sergey haften, den er jetzt erst deutlich zu erkennen schien. Nazarus sprach aber kein Wort, und der Ausdruck der Ueberraschung wich nicht aus seinen Zügen.

„Was haben Sie? Was denken Sie?“ fragte der Edelmann unwillkürlich.

Lakonisch erwiderte Nazarus:

„Ich bin gewaschen.“

„Das glaube ich wohl,“ sagte Sergey, „aber nun lassen Sie sich auch abtrocknen!“

Und er sorgte dafür, daß einer der Schlitten für den armen Sprachmeister zurecht gemacht wurde, ritt nebenher und richtete keine Frage mehr an den Verunglückten, wie Vieles auch zu erfragen gewesen wäre. In seinem Hause übergab Sergey den Sprachmeister der Behandlung Wania's, der sehr gut wußte, wie man einen Halberfrorenen wieder zu Leben und Behagen bringt. Nach dem Genuß heißer Getränke und glücklichem Ueberstehen der mit ihm vorgenommenen Manipulationen schlief Nazarus bis zum späten Morgen des nächsten Tages und erschien dann mit seinem gewohnten Gleichmuth am Frühstückstisch des Gutsherrn.

Noch verhielt sich der Sprachmeister sehr schweigsam, seine Miene jedoch spiegelte Zufriedenheit, sodaß Sergey ihn nicht durch wichtige Erkundigungen im vergnügten Hinbrüten stören wollte. Als aber Nazarus den Inhalt des Samowars in die Tasse fließen sah, verdüsterte sich seine Miene plötzlich und auffallend. Er suchte in allen seinen zahlreichen Taschen mit Verzweiflung, und wenn kein Capital bei ihm zu vermuthen war, so konnte man doch glauben, er hätte ein ihm anvertrautes verloren.

„All mein elendes Gepäck trug ich um den Leib gebunden,“ stöhnte er endlich, „und kein Stückchen fehlt. Aber das Kostbarste von den schnöden Gütern dieser Erde, meine Pfeife, meine kurze Reisepfeife –“

Er rang die Hände.

„Die ist wohl im Schnee stecken geblieben,“ sagte Sergey, „aber –“

„Nein,“ unterbrach ihn Nazarus, „ich erinnere mich jetzt, ich habe sie im Postwagen zurückgelassen. Unter'm Schnee habe ich nicht geraucht und später war ich wie verdonnert und verwettert. Ich will gleich –“

„Aber,“ schrie er auf, sich selbst unterbrechend; „jetzt fällt mir bei, der Postschlitten ist ja gewiß schon ohne mich davongefahren. Mein Reiseschein gilt nur für den bestimmten Tag, und es ist auf dem Schein zu lesen, daß auf einen Passagier, der sich von einer Station entfernt, nicht gewartet wird.“

„Kamen Sie denn nicht zu mir? War das nicht Ihr Reiseziel?“

„Keineswegs. Ich wußte nicht einmal, daß das Gut auf dem Wege liegt. Wie sollte ich mich erdreisten, uneingeladen –! Aber was soll ich jetzt anfangen?“

Der Gutsherr bedeutete ihm, den Thee nicht erkalten zu lassen, und sagte dann mit Lächeln:

„Für beide schreckliche Fälle weiß ich Abhülfe. Ich besitze von meinem Großvater her eine Pfeifensammlung, um die ich mich gar nicht kümmere; ich genieße nur Tschibouk oder Cigarre. Ich hoffe, ein Stück der Sammlung wird würdig sein, das verlorene zu ersetzen. Und was das Versäumen der Post betrifft, so war es meine Schuld; ich habe Sie in mein Haus entführt. Es ist daher meine Pflicht, für einen neuen Reiseschein zu sorgen, wenn Sie mir nur sagen wollten, wohin?“

„Nach Moskau.“

Nazarus nahm nach und nach seine frühere vergnügte Miene wieder an, und Sergey ließ ihm schweigend Zeit, sein Mahl zu beenden. Dann führte er seinen Gast in das Rauchzimmer, und als Nazarus seinen Tabak in Brand gebracht hatte, bat Sergey um Nachricht vom Freunde Nikolai Alexandrowitsch und von dessen ganzem Hause.

„Alles sehr wohl,“ sagte Nazarus und wähnte sich sehr fein auszudrücken, wenn er hinzufügte: „Sehr wohl Alles, so weit es den Körper betrifft, aber was die Kleider anbelangt –“

Und er schwieg und schüttelte den Kopf mit bedenklichem Gesicht.

„Die Kleider? Wie meinen Sie dies?“

„Ich meine, in den Kleidern sind Taschen und in den Taschen ist – nichts,“ platzte Nazarus ohne weitere Versuche, fein zu sein, heraus.

Und nun erzählte er umständlich die Verlegenheiten und Bedrängnisse des Hauses Towaroff in Folge der Schulden, die auf dem Besitze Andrejewo lasteten, und wie die Nervenerregung, die der Arzt den Gesprächen mit dem Freunde zugeschrieben, eigentlich in der materiellen Pein und Sorge des Gutsherrn wurzelte, der, abgesehen von der momentanen Noth und der damit verbundenen unangenehmen Correspondenz eines jeden Tages, noch von dem Zwange gequält war, als heiterer Lebemann seine Tage in einsamer Zurückgezogenheit hinbringen zu müssen. Er hatte nun, weil die Antwort auf einen Vorschlag, den er seinem Moskauer Advocaten gemacht, durchaus nicht eintreffen wollte, Nazarus, in Ermangelung eines besseren Vermittlers, veranlaßt, einen Bescheid in Moskau zu ertrotzen und zurückzubringen.

Sergey hörte diese Eröffnungen mit Bestürzung an und versank in tiefes Nachdenken. Sein Gast war jedoch nicht der Mann, dem er seine Gedanken hätte mittheilen wollen. Er bestand jetzt darauf, daß Nazarus seine Mission ohne Zögerung wieder aufnehme, und stattete ihn mit Allem aus, was die Reise beschleunigen und zugleich möglichst behaglich machen konnte.

Wieder allein geblieben, ging Sergey mit großen Schritten in seinem Bibliothekzimmer auf und nieder.

„Von dieser ganzen Misère,“ dachte er, „habe ich keine rechte Vorstellung gehabt; ich glaubte immer nur, es handle sich um Kleinigkeiten und Späße. Nikolai ist ein idealer Mensch – ich habe das immer gewußt. 'Die Freundschaft darf nicht zum Mittel für gemeine Zwecke dienen; Geld leiht man sich nicht von seinen Freunden, sondern von seinen Feinden aus,' hat er oft lachend gesagt. Lieber den Gleichgültigsten, den Fremdesten, als den Freund unter der Erbärmlichkeit des eigenen Schicksals leiden zu lassen – das war immer sein Grundsatz. Aber trotz alledem – jetzt muß geholfen werden.“

Sergey setzte sich nachsinnend an einen Schreibtisch, wo unter einem Briefbeschwerer die Schrift der Gräfin Ttschatscherin hervorlugte. Mechanisch zog Sergey das Schreiben hervor und las es noch einmal durch.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 315. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_315.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)