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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


in den Dachgiebelfeldern und die alte Steuerbrücke mit einem Todtentanze. Auch die Kirchen enthalten manches Sehenswerthe, und die Hof- und Stiftskirche, welche in der Woche allabendlich (außer Sonnabends, wo die Vormittagszeit dazu bestimmt ist) ein gewähltes Publicum zu einem Orgelconcert sammelt, bietet außerdem noch etwas Hörenswerthes: denn ihre gewaltige Orgel von neunzig Registern steht mit einer Tonhalle auf dem Kirchengewölbe in Verbindung, durch welches zwei der Stimmen, die Menschen- und die Engelsstimme, ihren Weg nehmen, um, wie von unsichtbaren Chören gesungen, aus der Decke der Kirche herniederzuschweben.

In eine andere Welt versetzt wieder das Zeughaus mit schönen Glasgemälden und der historischen Waffensammlung aus der Glanzzeit des Schweizerruhms, darunter die Rüstung des gefallenen Leopold von Oesterreich und gar ein Geschenk Karl's des Großen, in Harsthörnern bestehend. Die reichen städtischen Bibliotheken enthalten mancherlei handschriftliches Material von wissenschaftlichem Interesse.

Aber all das Sehenswerthe will gar keine rechte Zugkraft üben angesichts des blühenden, lachenden, bewegten Lebens ringsum. Die Luzerner sind gut katholisch, und das eine Zeitlang florirende liberale Element unterliegt wieder stark ultramontanen Einflüssen; aber sie sind ein munteres, lebenslustiges Völkchen, sauber und freundlich, wie ihre Stadt. Nur ist in dem bunten Menschentreiben auf Gassen und Quai schwer zu sagen, wer da Luzerner ist. Wir befinden uns in einem Sammelpunkte von Touristen, Sommerfrischlern und Badegästen, und diese fremden Elemente sind im Grunde die anziehenderen für das Auge. Da begegnen sich die originellen Trachten des Landvolks aus den Nachbarcantonen in ihrer verwirrenden Mannigfaltigkeit mit der bequemen Reisetracht der englischen Lady und der großen Toilette ständiger weiblicher Hôtelgäste; da wandert der nach allen Regeln der Bergsteigekunst equipirte französische Alpenbummler neben dem einfachen deutschen Gymnasiallehrer, der sein Nöthigstes im schlichten Umhängetäschchen mit sich führt; da plaudert, lispelt, schnattert und schnarrt es in allen civilisirten Sprachen besonders von den Lippen sehr junger Ehepaare, welche in sonnigster Honigmondstimmung ganz unverkennbar ein großes Contingent der fremden Besucher stellen.

In später Nachtstunde sammelt sich das Alles noch einmal zur Ankunft des letzten Dampfers auf der Promenade des Schweizerhofquais, und das giebt dann ein Bild ab, wie die beigefügte Zeichnung Meister Heyn's es den Lesern vor Augen stellt. Welch ein zauberhafter Genuß ist das, in lauer Sommernacht, im Mondschein an der blitzenden Wasserfläche auf und nieder zu promeniren, wenn der abendliche Bergduft über die Fläche schwebt und die Bergriesen in schimmernde Schleier hüllt!

„Er kommt!“ heißt es endlich, und da biegt der Dampfer von Weggis her in das Kreuz des Sees ein; nur langsam verringert sich die Entfernung. Leider hat sich die Wolkenwucht, die schon seit dem Nachmittage auf dem Pilatus gebraut, in flockiger Auflösung inzwischen weiter und weiter über den Himmel geschoben.

„Es wird morgen Regen geben!“ sagt eine Stimme.

„Um's Himmelswillen, es wird doch nicht? Das wäre zu schrecklich. Ein paar Tage nur am Vierwaldstädtersee, und dabei Regen!“

Aber da hilft kein Klagen und Jammern: ein Luzerner hat es gesagt, und die kennen ihren Pilatus.

V. Bl.




Martha und Maria.
Novelle von Hieronymus Lorm.
(Fortsetzung.)

Für die Gefährlichkeit des Wetters hatte die Tochter Nikolai's ein prophetisches Gefühl gezeigt. Denn während der wenigen Stunden, deren Sergey bedurfte, um nach Hause zu gelangen, war ein völliger Schneesturm losgebrochen. Der Reisende hatte Ursache, die Vorsorge Matrjona's dankbar zu empfinden. Die folgenden Tage dienten dazu, der Furchtbarkeit und Strenge eines russischen Winters volle Entfaltung zu geben. Sergey verschloß sich in seine Bibliothek und fand Behagen an einem Zustande, der ungeheuere Schneemauern aufthürmte, um ihn von der Menschenwelt völlig abzutrennen. Selbst Briefe und Zeitungen konnten einstweilen nicht zu ihm gelangen, weil die Ueberwehungen der Straßen den Postenlauf verhinderten. Wie ausgestorben war die ganze Gegend, und Sergey kam es vor, als ob er sich in einem Fabelreiche aufhielte, das nicht den Namen eines der Länder dieser Erde trüge.

Nachdem die Schneestürme aufgehört hatten, fror es gewaltig. Vögel stürzten todt aus der Luft. Die Arbeiter, die aufgeboten wurden, um mitten durch den Schnee hindurch glatte Bahnen für den Verkehr herzustellen, konnten nur langsam und unter großen Vorsichtsmaßregeln gegen die Kälte ihr Werk vollbringen. Wie früher der Schnee, so machte jetzt die Temperatur das Reisen fast unmöglich.

Dennoch schien sich der Postschlitten durchgearbeitet zu haben; denn Sergey erhielt endlich Sendungen aus Petersburg, unter welchen sich ein Brief seiner Tante, der Gräfin Tschatscherin, befand. Sie erzählte zuerst die Neuigkeiten der Hauptstadt, beschrieb die Genüsse, welche die Oper und das französische Theater boten, und schilderte die Personen, die ihren Kreis bildeten. Dann ging sie mit ernsteren Worten auf ihren eigentlichen Zweck über.

„Du siehst, dieser Winter läßt sich glänzend an,“ schrieb sie, „er ist ja der erste, seitdem wir den neuen Czar und mit ihm den Frieden bekommen haben. Gott segne sie beide, den Kaiser und den Frieden! Wenn Dich nun weder Lust und Vergnügen bewegen können, Deine Einsamkeit aufzugeben, noch die neu erwachte Thätigkeit auf allen Gebieten Macht über Dich hat, Dich dem Müßiggange zu entreißen, so bin ich, falls Du hierin wirklich einen unwandelbaren Entschluß gefaßt haben solltest, weit entfernt, Dir deshalb zu zürnen, oder auch nur zu grollen. Mich dünkt zwar, daß, wenn es sich, wie jetzt hier, überall regt und bewegt und ein neues, vielversprechendes Regiment an der Spitze steht, kein Mann von fünfunddreißig Jahren und in bester Gesundheit sich weigern sollte, an die Gestaltung besserer Zustände mit Hand anzulegen. Indessen habe ich über die Sache mit Peter Michailowitsch Nikitine gesprochen, den Du kennst und der ein vortrefflicher Mann ist. Er ist um fünf Jahre jünger als Du, und scheint mir doch klarer zu sehen, als wir Alle. Er bestreitet mir gewissermaßen das Recht, hinsichtlich Deiner öffentlichen Laufbahn in die Dispositionen Deines Charakters widersprechend eingreifen zu wollen. Ich muß mich daher bescheiden, Dir meine Wünsche in dieser Beziehung, obgleich es bereits das zehnte Mal sein mag, noch einmal auszudrücken. Frauen sollen sich ja nicht in die Angelegenheiten des öffentlichen Lebens machen, nicht einmal durch einen darauf bezüglichen Rath.

Einen Punkt giebt es jedoch, den ich nicht so gelassen behandeln kann. Du bist der Sohn meines Bruders, den ich von Jugend an mehr geliebt habe, als bis heute irgend einen Menschen, meine Kinder ausgenommen. Ich bin überzeugt, daß er sich im Grabe umdrehte, wenn er wüßte, daß Du als Junggeselle dahingehen und seinen Namen nicht fortpflanzen willst. Wenn Du keine angeborenen, sondern nur freiwillig übernommene Pflichten dem Vaterlande gegenüber anerkennst, wie Du oft gesagt hast, so wirst Du Dich doch den Pflichten nicht entziehen wollen, welche Abstammung und Familie Dir auferlegen.

Komme also diesen Winter nach Petersburg, um Dir eine Frau auszusuchen! Du hast die Wahl unter den schönsten, vornehmsten und reichsten Töchtern des Landes. Welche Freude hätte ich, Deine Pläne durch meinen kleinen Intriguengeist zu unterstützen, der auch in den unschuldigsten Dingen nicht überflüssige Dienste thut! Davon will ich gar nicht sprechen, daß ich mein Haus durch neue, weibliche Verwandtschaften gleichsam wärmer machen möchte, da es bei allem Zudrange der Weltleute doch sehr kalt und einsam ist. Schreibe mir bald günstig über dies Alles!“

Kaum hatte Sergey den Brief zu Ende gelesen, als ihm

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 314. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_314.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)