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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


ein nothwendiger Bestandtheil des Lebens auf Andrejewo geworden. Mit Staunen und doch mit kaltem Gleichmuth sah und beobachtete er die schön erblühten Töchter des Freundes, die eben in der Vollgewalt ihres Reizes standen. Die Unterhaltung im Familienkreise gab den Mädchen Gelegenheit, ihre Gesinnungen, Wünsche, Lebenshoffnungen auszusprechen. Sergey fand dann, wenn er sich den langweiligen Weg der Heimkehr durch Nachsinnen verkürzte, genügenden Grund, sich über sich selbst zu wundern. Denn ohne dabei die äußere Erscheinung im Geringsten in Anschlag zu bringen, empfand er doch, soweit er derartigen Eindrücken überhaupt zugänglich war, mehr Wohlgefallen an der durchaus praktisch gesinnten Matrjona, als an der zu schwärmerischen Gefühlen und Abstractionen geneigten Milinka, während nach seiner eigenen Natur und Denkungsweise gerade das Gegentheil hätte der Fall sein sollen.

Er hatte eines Tages Gelegenheit, die verschiedenen Charaktere der beiden Mädchen zu erörtern. Denn er genoß die Ehre, bei sehr schlechtem Wetter und weil wieder einmal Nikolai's Pferde zu große Fehler gehabt hatten, in seinem eigenen Wagen Herrn Hesekiel Nazarus nach der Kreisstadt zu bringen.

Der deutsche Sprachmeister hatte schon lang entdeckt, daß Nikrachewsky mit der Philosophie nicht unbekannt und stets wißbegierig war, mehr darüber zu erfahren. Nazarus selbst war in der Leibnitz- Wolff'schen Schule stecken geblieben und vollkommen überzeugt, daß Alles, was später auf diesem Gebiet an den Tag getreten und was er zufällig nicht mehr gelesen, durchaus keine Bedeutung hatte. Als Sergey, der mit Kant vertraut war, nach diesem fragte, antwortete Nazarus:

„Ja, ich weiß, das ist einer von den Neueren, aber die Jungen taugen alle gar nichts. Ich bedaure sehr, mein guter Herr, daß Sie meine Werke nicht gelesen haben.“

„So!“ rief Sergey höchst überrascht, „das will ich nachholen! Wo sind denn die Werke zu haben?“

„Sie sind nicht geschrieben,“ erwiderte Nazarus, heftige Rauchwolken von sich stoßend; „ich habe niemals freie Zeit dazu gehabt, und außerdem verträgt meine Natur das Schreiben nicht gut. Ich nicke regelmäßig dabei ein und schlafe meinen Lesern das Beste weg. Uebrigens,“ fuhr er nach einer Pause fort, „darf man, um Weltweisheit zu schöpfen, nicht zu weit in die Jahrhunderte zurückgehen. Denn ohne Rauchen läßt sich nach meiner Meinung nichts Gescheidtes ausdenken. Der Tabak kam erst nach der Entdeckung Amerikas zu uns; Weltweisheit läßt sich also frühestens vom sechszehnten Jahrhundert erwarten.“

Sergey erwiderte hierauf nichts, um den Gedanken nicht aussprechen zu müssen, daß er sich mit dem Sprachmeister nicht wohl in Wissenschaft werde ergehen können. Weil aber Nazarus doch unverkennbar ein frommer Mann war, sagte Sergey:

„Sie haben gewiß bemerkt, Herr Doctor, daß die Töchter meines Freundes Nikolai Alexandrowitsch von sehr verschiedener Natur sind. Mir ist dabei heute eine Bibelstelle in's Gedächtniß gekommen, ohne daß ich mich im Moment darauf besinnen könnte, wie sie eigentlich lautet.“

Das war für Nazarus eine willkommene Gelegenheit, zu zeigen, wie bibelfest er war. Er fragte nur noch, worin die Verschiedenheit bestehen möge, die Sergey meinte; denn von selbst war der Sprachmeister niemals darauf gekommen, psychologische Bemerkungen anzustellen. Sergey erklärte ihm nun, daß Matrjona ihm den Eindruck einer durchaus dem realen Leben zugewendeten Seele mache, während Milinka nicht bezweifeln lasse, daß ihr Herz und ihre Geistesrichtung idealeren Interessen sich zuneige. Mehrmals mußte Sergey diese Auffassung auseinander setzen, ehe der alte Lehrer verstand, was der Edelmann meinte. Dann aber besann er sich wenig mehr und sagte:

„Sie haben an das Evangelium Lucas gedacht, Capitel 10, Vers 38 bis 42.“

Dann citirte er sogleich wörtlich:

„Es begab sich aber, da sie wandelten, ging er in einen Markt. Da war ein Weib, mit Namen Martha, die nahm ihn auf in ihr Haus. Und sie hatte eine Schwester, die hieß Maria; die setzte sich zu Jesu Füßen und hörte seiner Rede zu. Martha aber machte sich viel zu schaffen, ihm zu dienen. Und sie trat hinzu und sprach. 'Herr, fragst Du nicht darnach, daß mich meine Schwester lässet allein dienen? Sage ihr doch, daß sie es auch angreife!' Jesus aber antwortete und sprach zu ihr: 'Martha, Martha, Du hast viele Sorge und Mühe, eins aber ist noth. Maria hat das gute Theil erwählet, das soll nicht von ihr genommen werden.'“

Nazarus fügte seinem Citat hinzu:

„Merkwürdig, daß es hier keine Parallelstelle in den anderen Evangelien giebt.“

„Die Parallele finden wir im Leben,“ sagte Sergey, „und doch –“

Er schwieg.




2.

Als Sergey nach einigen Tagen in Andrejewo erschien, fand er den Arzt im Hause. Man hatte ihn aus der Kreisstadt kommen lassen, weil Towaroff von einem Krampfanfall war ergriffen worden. Der Arzt kam nun täglich und schien es besonders darauf abgesehen zu haben, die Wirkungen eines Besuches Sergey's zu beobachten.

Dieser gab sich unbefangen wie gewöhnlich der Unterhaltung mit Nikolai hin. Es handelte sich diesmal um eine Verwandte Sergey's, um die Gräfin Varinka Wladimirowna Tschatscherin in Petersburg, die Schwester seines verstorbenen Vaters. Sie war längst Wittwe; ein Sohn war auf dem Felde der Ehre geblieben, eine Tochter in Frankreich verheirathet. Die Trennung von ihrem einzigen noch lebenden Kinde schmerzte sie sehr; dennoch konnte sie sich nicht entschließen, Rußland auf die Dauer zu verlassen.

Die Tante Sergey's war keineswegs damit einverstanden, daß Sergey sich nach dem Verlassen des Militärdienstes wie ein Schwärmer, wie ein Sonderling in die Einsamkeit zurückzog. Sie wollte, daß er die ihm günstigen Chancen benutze, um im Staatsdienst von Neuem Carrière zu machen, und schrieb ihm lange Briefe, um ihm diese Ueberzeugung beizubringen.

Nikolai Alexandrowitsch war ganz derselben Meinung.

„Die Gräfin Tschatscherin ist eine Frau nach meinem Herzen,“ rief er; „ich verliere sehr viel an Dir, das weißt Du, Sergey Iwanowitsch; die Teufel der erzwungenen Weltflucht, der Langenweile werden sich mir wieder auf Brust und Nacken setzen. Aber alle Teufel der Erde und der Hölle sollen mich nicht verleiten, einen guten Freund in seiner verstockten Dummheit zu bestärken!“

„Was verstehst Du unter verstockter Dummheit?“ erwiderte Sergey ganz gelassen; „daß ich nicht die Uniform ausgezogen haben will, blos um eine Livrée dafür anzuziehen?“

Dem guten Nikolai stieg auf diese Rede das Blut in's Gesicht.

„Da bist Du wieder bei Deinem Thema!“ begann er eine lange Strafpredigt, in deren Verlauf seine Aufregung stets größer und seine Stimme stets lauter wurde. Als die Aufregung Nikolai's am stärksten geworden war, trat der Arzt in's Zimmer. Er untersuchte den Zustand Nikolai's und gab dann, indem er sich von diesem verabschiedete, Sergey einen leisen Wink. Nikolai durfte sein Gemach nicht verlassen, und Sergey gehorchte dem Winke und begleitete den Scheidenden. Als sie außer der Gehörweite des Kranke waren, erklärte der Arzt, daß die Gespräche der Freunde für den leidenden Towaroff lebensgefährlich wären, gerade weil er die ihm daraus erstehende Aufregung so sehr liebte, wie ein Branntweintrinker den Rausch, und daß es gut wäre, wenn die Zusammenkünfte für einige Wochen unterbrochen werden könnten; nur dürfe Towaroff den wahren Grund der Unterbrechung nicht ahnen.

Sergey ließ sich dies gesagt sein. Zum Freunde zurückgekehrt, warf er sich wie erschöpft in einen Sessel und sprach:

„Ich bin hinausgegangen, um frische Luft zu athmen. Unsere Debatten greifen meine Nerven an. Ja, ich habe Nerven, wie mir der Arzt soeben betheuerte. Bisher glaubte ich, Nerven wären ausschließlich ein Bestandtheil des weiblichen Körpers. Zehn Jahre jünger als Du, Nikolai, bin ich um zehn Jahre älter nach meiner Schwäche und leiblichen Beschaffenheit. Wir dürfen, um meinetwillen, eine Zeit lang nicht mehr zusammen kommen.“

Nikolai war sehr erschrocken.

„Wie lange willst Du fortbleiben?“ fragte er.

„Ich weiß es nicht,“ antwortete Sergey, „aber ich will Dir eine Art Vertrag vorschlagen.“

Man war jetzt im November, und sie kamen überein, daß

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 287. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_287.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)