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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


Nikrachewsky besaß mehr, als seine wesentlichsten Bedürfnisse erheischten; Nikolai Alexandrowitsch Towaroff weniger, als selbst die Nothwendigkeit erforderte. In jungen Jahren hatte er viel vergeudet und zwei Jahre nach seiner Mündigkeit ein armes Mädchen geheirathet.

Wäre es aus Liebe geschehen, der Bund wäre ihm vielleicht zum Segen gereicht, das Seelenglück hätte ihn in Bezug auf andere Besitzthümer genügsamer gemacht. Es war aber nicht aus Liebe geschehen, sondern aus – guter Laune, aus jenem holden Leichtsinn, der sich von wüster Tollheit durch das Edle der Absichten unterscheidet. Das Mädchen hatte ihm in dem Grade gefallen, daß er keine Verführungskünste anwenden mochte, aber es hatte ihm nicht in dem Maße gefallen, daß er auf dasselbe nicht, ohne zu verzweifeln, hätte verzichten können.

Er fand bald keine Freude mehr an seinem Hause, obgleich es niemals zu offenen Conflicten zwischen dem gutmüthig lebensfrohen Manne und der still demüthigen Frau gekommen war. Die Geburt einer Tochter beglückte ihn nur in bescheidenem Maße, weil sich seine Phantasie vom Besitz eines Sohnes besonders erfreuliche Vorstellungen gebildet hatte, und als auch das zweite Kind weiblichen Geschlechtes war, schickte er die Mutter sammt den kleinen Mädchen auf sein Gut im Gouvernement Wladimir.

Das Gut stammte von einem seiner mütterlichen Verwandten, Andreeff, und führte darum noch immer den Namen Andrejewo. Es bildete so ziemlich den Inbegriff seiner letzten Habe, war aber auch schon bis über die Schornsteine des Herrenhauses mit Schulden belastet. Alle heilige Zeit einmal besuchte dort Nikolai Alexandrowitsch seine Familie. Als seine Gattin starb, war es für ihn gerade an der Zeit, den Abschied vom Militär zu nehmen. Er fand zu Hause am Sarge seiner Frau zwei halberwachsene Töchter, Matrjona und Milinka, deren weitere Pflege und sorgsame Erziehung fortan allein zu übernehmen der hell durchsichtige Vorwand war, weshalb er nicht mehr nach Moskau oder Petersburg zurückkehrte, sondern von jetzt an ununterbrochen die erzwungene „Ruhe mit Würde“ genoß.

Die ältere Tochter, Matrjona, hatte schwarze Haare und in derselben Farbe funkelnde Augen; sie hatte sich gleich nach dem Tode der Mutter bereit und geschickt gezeigt, die Geschäfte der Haushaltung auf sich zu nehmen. All die kleinen Kunststücke, um die würdige Repräsentation des Hauses und zugleich einen wenn auch nur mäßigen Comfort auf dem Wege äußerster Sparsamkeit zu erreichen, hatte Matrjona der Mutter treu abgelernt.

Die jüngere Tochter hingegen, eine zarte blauäugige Blondine, verrieth einigen Widerstand gegen Beschäftigungen, welche sie mit dem Namen Prosa belegte, und befand sich außerordentlich wohl, wenn sie ungestört den schönen Künsten, namentlich aber der Lectüre sich hingeben durfte.

Matrjona's Vorliebe für haushälterische Obliegenheiten hatte zur Folge, daß das Mädchen fast ausschließlich mit ihnen betraut war, wobei die um ein Jahr jüngere Schwester sie nur wenig unterstützte. Indessen ward Matrjona deshalb doch nicht der Pflicht enthoben, an dem Unterricht in wissenschaftlichen Gegenständen ausgiebig theilzunehmen. In der Kindheit hatte diesen Unterricht eine Bonne besorgt, die später Gouvernante und, als die Mädchen dem zwanzigsten Lebensjahre nahe kamen, Gesellschafterin genannt wurde. Ernsthaft aber und in strenger Form ertheilte den Unterricht ein Deutscher, der in der nahen Kreisstadt als Sprachmeister lebte und schon bei Lebzeiten der Mutter, da die Mädchen in das Backfischalter getreten waren, jede Woche für zwei Tage nach Andrejewo kam. Die Sommerferien und die Weihnachtswoche brachte er dort stets als Gast zu, jedesmal mit zwei schweren Kisten ankommend, die seine Bücher enthielten, und ein Päckchen mit seiner Wäsche unter dem Arme tragend.

Er führte den Namen Hesekiel Nazarus und ließ sich Doctor tituliren, eine Gefälligkeit, die man ihm auch ohne weitere Prüfung des Thatbestandes gern erwies. Da er niemals lachte und beständig rauchte, so hatte er den Mädchen keine sympathische Erscheinung sein können, und der Vater, Nikolai Alexandrowitsch, ließ, so oft er des Sprachmeisters ansichtig geworden war, den stereotypen Witz vernehmen:

„Der Doctor Nazarus steht im Geruch der Gelehrsamkeit und des Tabaks.“

Trotzdem widmete Milinka ihrem Lehrer in deutscher Sprache und Literatur sowie in Geographie und Geschichte einen unbegrenzten Respect, eine bis zur Demuth gehende Hochachtung vor seinen Kenntnissen, während Matrjona in die gebotene Ehrerbietung einen leisen Zug von Spott und Verachtung zu mischen nicht unterlassen konnte.

Wenn man sie darüber zur Rede stellte, so erwiderte sie lachend: „Ich würde dem Doctor Nazarus gewiß sehr gut sein, wenn ich ihn nur immer, noch bevor ich ihn zu sehen bekomme, erst waschen könnte.“

Hesekiel Nazarus hatte für Rußland, das er bereits seit dreißig Jahren bewohnte, große Vorliebe. Den Grund wußte Niemand, aber es kümmerte sich auch Niemand darum. Die Thatsache genügte, um ihn sowohl beim Gutsherrn wie bei den dienenden Hausgenossen in unwandelbare Gunst zu setzen. Stets hatte er ein Lob für russische Eigenthümlichkeiten auf den Lippen, und eine Entschuldigung vorkommender Ungeheuerlichkeiten drückten wenigstens seine Mienen aus.

Er pflegte gewohnheitsmäßig und ohne weiteres Nachdenken dasjenige, was er vor einem Menschenalter, bevor er Deutschland verlassen, an Büchern und Schriften kennen gelernt hatte, für die neueste deutsche Literatur zu halten. So sagte er in den fünfziger Jahren: „Soeben ist eine neue Erzählung von H. Clauren erschienen, dem ersten jetzt lebenden Romanschriftsteller der Deutschen. Das Buch ist freilich selbst in Moskau noch nicht zu haben, aber die russischen Buchhandlungen müßten Zauberer sein, wenn man bei so großer Entfernung eine so rasche Beförderung von ihnen verlangen könnte.“

Das Herrenhaus in Andrejewo empfing außer dem Doctor Hesekiel Nazarus nur selten einen Gast. Es wurde neben der Gutsherrschaft blos noch von dienstthuenden Leuten bewohnt, und deren waren nur drei an der Zahl: die schon erwähnte Gesellschafterin, eine uralte Köchin und ein Kutscher. Letzterer konnte sein wichtiges Amt nicht zu jeder Zeit bekleiden, einfach aus Mangel an Pferden. Nikolai Alexandrowitsch wußte an denselben stets einen unleidliche Fehler zu entdecken, so oft ihm die Fütterung eine unerschwingliche Last zu werden drohte, und nach der Veräußerung, unter dem Vorwand, die entsprechende Rasse erst suchen zu müssen, die Wiederanschaffung lange hinauszuschieben. Besuche von und bei Gutsnachbarn fanden nicht statt; denn je umfassender die russische Gastfreundschaft sich gestaltet, die nicht blos die Bewirthung des einzelnen Besuchers, sondern auch die seiner Angehörigen und Dienerschaft und oft für mehrere Wochen erfordert, um so mehr trug man Bedenken, das Herrenhaus von Andrejewo damit zu belasten, was zur natürlichen Folge hatte, daß auch die Bewohner des letzteren es niemals zu dem Zwecke verließen, um bei Freunden in der Nachbarschaft gastliche Aufnahme zu finden.

So verlief das Leben auf Andrejewo in einer ununterbrochenen Einförmigkeit, welche jede sich zufällig darbietende Abwechselung oder Neuerung im Lichte eines großen Ereignisses erscheinen lassen mußte. Als solches wurde es denn auch aufgenommen, als der geliebteste Freund und ehemalige Camerad Towaroff's, als Sergey Iwanowitsch Nikrachewsky im Gouvernement Kostroma sich ansiedelte. Die erste Meldung von diesem Ereigniß brachte Nikolai ganz außer sich vor Freude.

„Dieser einzige Mann,“ rief er, „ersetzt mir das Officierscasino in Moskau, die Bälle in Petersburg und die Jagden bei Kiew. Wie sehne ich mich, mit ihm grob zu werden! Denn er ist ein schwarzgalliger Misanthrop, dem man zuweilen einen Schlag geben muß, um ihn wieder auf einen vernünftigen Weg zu bringen. So lange er es aber nicht zu bunt treibt, so lange man ihn gewähren lassen kann, ist er ein bezaubernder Mensch.“

Auch Sergey freute sich, dem alten Freunde räumlich näher zu kommen und die Gespräche und Discussionen über die zwischen ihnen herrschenden Verschiedenheiten der Lebensauffassung zu erneuern. Sergey, der auch durch die Sanftmuth und Gelassenheit beim Disputiren ein Gegensatz zu Nikolai war, liebte diesen über Alles, ohne sich eines andern Grundes dafür bewußt zu sein, als daß er im Freunde den Ausdruck der reinsten Lebensfreude bewunderte, die, wenn sie nicht momentane Betäubung ist, sondern zur Natur des Gemüthes gehört, auf Andere stets anziehend und erfrischend wirkt. Da beide Freunde für das Briefschreiben nicht eingenommen waren, so hatten sie sich während langer Trennung über ihre gegenseitigen Verhältnisse kaum eine Kunde gegeben.

Nicht lange dauerte es, und die Besuche Sergey's waren

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 286. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_286.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)