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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


Steinbogen und kleinen Pilastern verzierter Mauerrest, der unmittelbar über dem Mainufer emporsteigt und noch jetzt den hochtönenden Namen „Palatium“ trägt, deutet den Platz an, wo sich einst die Seligenstädter Kaiserpfalz erhob, die noch wiederholt von den Regenten aus dem Geschlecht der Hohenstaufen zum Aufenthalt benutzt worden ist.

Für die Erbauung des Palatium zu Seligenstadt wäre nun genugsame Veranlassung zu finden in Kaiser Karl's besonderer Vorliebe für die Jagd und der Nähe seines Lieblingsforstes, des Dreieich, dessen Grenzen mit denen der übrigen beiden großartigen Reviere des alten, deutschen Reichswaldes, dem „Forehahi“ und Odenwald, so nahe zusammenliefen, daß die drei zusammen gleichsam eine einzige, nur hier und da durch Sumpfland unterbrochene Strecke tiefsten, wundervollsten Urwaldes bildeten. Zeugen doch von jener Vorliebe des Kaisers für den herrlichen Bannforst noch heute die Ruinen von Dreieichenhain, die Stätte bezeichnend, wo das kaiserliche Jagdschloß stand. Aber die Sage hat eine ganz andere Erklärung noch für den Vorzug des Ortes, einen Reichspalast erhalten zu haben, sowie für den Namen Seligenstadt, eine Erklärung, die uns gewissermaßen in den engsten Kreis der Familienverhältnisse jenes deutschen Kaisers einführt, dem Mit- und Nachwelt den ehrenvollen Beinamen „der Große“ gaben.

Der Liebesroman von Emma, der Tochter des Kaisers, die Eginhard, den Geheimschreiber ihres Vaters, heirathete, ist – wie man wohl sagen darf – ein in aller Welt bekannter. Die uralte Chronik des Klosters Lorsch, dessen gelehrten und fleißigen Mönchen wir so viele interessante Notizen und Berichte aus der fernen Vorzeit verdanken, bewahrte der Nachwelt auch jene anziehende Sage von deutscher Liebe und Treue auf. Der Ort nun, wohin Eginhard und Emma sich wandten, nachdem der Kaiser sie vom Hofe „und aus seinem Angesichte“ verbannt hatte – wo sie Beide lebten, starben und die Stätte ihrer ewigen Ruhe fanden, ist der Ueberlieferung zufolge eben in Seligenstadt und dessen ehemaliger Benedictiner-Abtei zu suchen.

Kaiser Karl der Große hatte sich, so heißt es, mit der Verbannung des jungen Paares selbst am härtesten gestraft. Emma war seine Lieblingstochter, Eginhard sein Günstling. Häusliche Tugenden zierten die junge Prinzessin; nicht umsonst hieß sie nach der fleißigen Biene „Imma“; und eine dieser häuslichen Tugenden wurde des verbannten Kaiserkindes Glück und der Grund zur Aussöhnung mit dem Vater: ihre besondere Meisterschaft in der Kochkunst.

Kaiser Carolus kam auf einem seiner Jagdzüge durch den Dreieich an des Maines Ufer bei Ober-Mühlheim und machte mit seinem Gefolge Rast in der Nähe einer Fischerhütte, die einsam dort am Strande lag, wo nun auf schöner Terrasse die Abtei Seligenstadt sich erhebt. In dem Fischerhäuschen griff die am Herde wirthschaftlich waltende junge Hausfrau in die Functionen des kaiserlichen Kochs ein. Sie kochte einen in Main eben geangelten Fisch auf die Weise, wie sie ihn einst ihrem Vater zubereitet. – Kaum sah der Kaiser die Schüssel, so stieg die Erinnerung an sein verbanntes, seit lange umsonst gesuchtes Kind in ihm auf, und heftig fragte er: „wer den Fisch gekocht habe?“ – Der erschrockene Koch lief auf und davon; der Kaiser eilte zur Hütte und stand jetzt vor der einfach und ländlich gekleideten Frau. Er erkannte sie sofort; sie sank zu seinen Füßen hin, und er nahm sie an sein Herz, in dem sie fortan ihren alten Platz wieder behauptete. Auch mit Eginhard war er ausgesöhnt, als er seine Emma trotz Armuth und Entbehrung so beglückt und zufrieden fand. Damals rief er die Worte aus, welche dem Platze einen neuen Namen geben sollten: „Selig sei die Statt, wo sich meine Tochter wiedergefunden hat!“

Der Ort war seitdem ein geweihter für die drei Glücklichen. Den frommen Gebräuchen einer alten Zeit zu Folge – die an den Stellen, wo dem Menschen Glück und Heil widerfahren, der Gottesverehrung Ausdruck gab – begründeten Eginhard und Emma dort, wo sie den Kaiser und Vater mit sich ausgesöhnt hatten, ein Kloster, die Benedictiner-Abtei Seligenstadt. Anfangs weltlicher Vorsteher derselben, später nach dem 836 erfolgten Tode seiner Gattin Abt, schrieb Eginhard hier die meisten der Werke, welche seinen Gelehrtenruf feststellten, nicht aber seine berühmte Chronik über das Leben Kaiser Karl's des Großen, die ihm schon verschiedene Jahre früher einen Namen machte.

Die Abtei wurde 1802, nachdem sie über tausend Jahre bestanden, aufgehoben und Seligenstadt fiel an den Großherzog von Hessen. Die stattlichen Bauten der Kirche und des sich daran schließenden Convents erheben sich noch heute an ihrer alten Stelle nahe dem Mainufer, nur wenige Schritte von den Ueberresten des Palatium entfernt. Die Kirche beherrscht den Vordergrund des weiten Platzes, und hinter derselben dehnen sich in mächtigem Viereck die langgestreckten Flügel der Klosterbauten. Obgleich Um- und Anbau dem alterthümlichen Gotteshause vielfach schadeten, ist die Kirche mit ihren schönen Thürmen, ihrer großartigen Façade, eine besondere Zierde des Maingebiets. Sie wird neuerdings mit großer Pracht renovirt.

Interessanter – und zu den alten Zeiten und sagenhaften Geschichten passender war die Kirche früher. Es lag damals in dem düstern, tief umschatteten Raume dieser uralten Pfeilerbasilika, die noch ein Atrium besaß, ein geheimnißvoller, ein ganz unsagbarer Zauber. Das Grau der Wölbungen, hie und da der tiefe Verfall, dann die dunklen alten Chor- und Betstühle, der alterthümliche und eigenartige Bilderschmuck – all dieses Dunkle und Düstere paßte prachtvoll zu der Grabstätte inmitten des hohen Chors, zu jenem mit der Krone und dem Kaiserwappen der Karolinger gezierten mächtigen Sarkophage von schwarzem Marmor, den die Sage mit ihren grauen Schleiern umwob.

Im März des Jahres 1872 feierte Seligenstadt einen großen Triumph. Es ging nämlich seit lange die Sage: Eginhard und Emma wären nicht in jenem Marmorsarkophage, sondern zu Erbach im Odenwalde begraben. Wer je den interessanten alten Rittersaal des Erbacher Schlosses durchschritt und unten in der kleinen abgegrenzten Gruft vor dem großen einfachen Steinsarge stand, der wird dort auch gehört haben: „darin ruhen die Stammeltern des gräflich Erbach'schen Geschlechts, Eginhard, Herr und Graf von Erbach, ehemals Geheimschreiber Kaiser Karl's des Großen, und Emma, Eginhard's Gemahlin, des mächtigen Kaisers Lieblingstochter.“

Der Erbacher schlichte Steinsarg, ähnlich dem zu Verona als Ruhestätte Romeo's und Julien's erklärten, befand sich allerdings einst in der Seligenstädter Abteikirche; in ihm aber ruhten, wie die Seligenstädter Ueberlieferung besagte, Eginhard und Emma nur so lange, bis ein prachtliebender Abt einen Marmorsarkophag als passender erachtete für die Tochter und den Schwiegersohn eines großen deutschen Kaisers.

Im März 1872 nun, vor der Renovirung des hohen Chors, wurde der Marmorsarkophag von seinem alten Platze entfernt. Er kam in einen niedrigen Anbau im hohen Chor, in das sogenannte Kirchenarchiv. Dieses ist jetzt zur Capelle umgewandelt und durch offenen Eingang mit der Kirche verbunden. Vor der Veränderung des Platzes öffnete man den Sarkophag in Gegenwart einer dazu eingeladenen Commission, die aus verschiedenen höheren hessischen Beamten und Würdenträgern der Kirche bestand. Man legte dieser Commission zuvörderst ein altes Urkundenbuch der Abtei vor, in welchem Seligenstädter Klosterbrüder über eine gleiche Nachforschung nach den Gebeinen der berühmten Todten aus den Jahren 1607 und 1722 berichtet haben.

Nach hundertfünfzig Jahren stand man also abermals an dem uralten Grabe zu einem gleichen Zwecke versammelt. Der Wunsch, den alten Streit endlich beigelegt zu sehen, mochte diese letzte Nachforschung angeregt haben. Dieselbe fiel zu glänzender Rechtfertigung des alten Urkundenbuches aus; denn bis auf's Kleinste stimmten seine Angaben mit dem Inhalt sowohl des Sarkophags wie der darin ruhenden Documente überein. Der Anfang des neuen, vor Zeugen aufgenommenen Berichtes über den Befund, welcher Bericht von allen Anwesenden unterzeichnet wurde, mag hier wortgetreu folgen:

„Nach Hinwegnahme der marmornen Deckelplatte des Sarkophags erblickten wir, ungefähr ein Fuß tiefer, eine Bretterlage, und nach deren Entfernung wurde eine sargähnliche Lade sichtbar, die mit zwei Siegeln, denen des Abts Peter des Vierten Schultheiß, versehen war. Im Innern war diese Lade durch eine Querleiste in zwei Abtheilungen getheilt. In der einen derselben, gegen den Hochaltar hin, lagen zwei schwarzseidene Säckchen, an deren eines eine kleine Pergamentrolle angebunden; außerdem befand sich hier ein Stück schwarzen Zeuges aus ripsartigem Stoffe und ein Stück durchlöchertes Leinen. – In der andern, nach dem Schiff der Kirche gerichteten Abtheilung fanden sich,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 282. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_282.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)