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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)

oder nicht: der Beschädigte oder der Unternehmer? Die Gesetzvorlage sagte – allerdings in Uebereinstimmung mit den hergebrachten Rechtsgrundsätzen –: der Beschädigte. Dagegen ward von vielen Seiten geltend gemacht: dann werde der Beweis in den meisten Fällen gar nicht erbracht werden; denn wie solle z. B. bei einem Unglücksfall durch schlagende Wetter in einem Bergwerke, wo gewöhnlich die Unglücksstätte selbst zerstört oder verwüstet ist, nachträglich bewiesen werden, ob etwas und was von Seiten des Unternehmers oder seiner Angestellten versehen worden sei? Es ward daher mehrfach im Reichstage beantragt: der Unternehmer (eines Bergwerks, einer Fabrik) solle jedes Mal nachzuweisen haben, daß von seiner Seite und von seinen Angestellten nichts versäumt oder vernachlässigt worden sei, was dazu hätte dienen können, den Unglücksfall abzuwenden. Er sei, wurde behauptet, dann immer noch besser daran, als eine Eisenbahngesellschaft, welche ohne Weiteres als schuldig und daher haftbar betrachtet werde, sobald sie nicht höhere Gewalt oder eigenes Verschulden der Beschädigten nachweise.

Indeß auch diese Anträge wurden verworfen, und so blieb es bei der dem Beschädigten (beziehentlich dessen Hinterlassenen) obliegenden Beweislast. Zum Troste dafür ward von den Vertheidigern der Vorlage gesagt: indem das Gesetz für alle haftpflichtigen Fälle die alte, beengende Beweistheorie in Wegfall bringe und den erkennenden Gerichten das allerfreieste Ermessen einräume sowohl hinsichtlich der Schuldfrage selbst, wie hinsichtlich der Höhe des Schadenersatzes (und das that es allerdings in den §§ 6 und 7), gebe es den Gerichten die Möglichkeit, auch ohne eine strenge Beweisführung von Seiten des Beschädigten diesem eine Entschädigung zuzusprechen, wenn sie nach ihrer wohlerwogenen Ueberzeugung, nach allen vorliegenden oder von ihnen auf eigene Hand ermittelten Umständen die Ansicht gewännen, daß ein Verschulden des Unternehmers oder eines seiner Beauftragten vorliege. Wir werden später (in einem zweiten Artikel) sehen, daß die Hoffnung: die Gerichte würden dem Beschädigten, trotz der für ihn so sehr erschwerten Beweisführung, dennoch zu seinem Rechte verhelfen, wenigstens in vielen Fällen keine vergebliche gewesen ist.

Auf eine besondere Bestimmung des Gesetzes, welche nicht in der ursprünglichen Vorlage enthalten war, sondern erst vom Reichstage hineingebracht ward, auf den vielberufenen § 4, der unter gewissen Voraussetzungen die Kranken-, Knappschafts- und ähnliche Cassen bei der Entschädigung haftpflichtiger Unfälle in Mitleidenschaft zieht, wollen wir hier nicht näher eingehen, wir bemerken nur, daß die mit diesem Paragraphen gemachten Erfahrungen uns für eine Beseitigung desselben zu sprechen scheinen.

Fassen wir alle diese Momente in’s Auge, so werden wir sagen müssen, daß das Haftpflichtgesetz von 1871 allerdings manche wichtige Verbesserungen der bisherigen Gesetzgebung enthielt und daß es entweder Unwissenheit oder böswillige Absicht verrieth, wenn socialistische Agitatoren dasselbe als ein für die Arbeiter ganz werthloses, ja wohl gar als ein ihnen nachtheiliges verschrieen, daß es aber auf der andern Seite sehr begreiflich ist, wenn dieser erste Ansatz zu einer gesetzgeberischen Regelung der Materie für das ganze Reich – und das war das Haftpflichtgesetz – noch unvollkommen und lückenhaft blieb. Seit dessen Inslebentreten sind nun nahezu neun Jahre vergangen, und zahlreiche Erfahrungen sind mit Anwendung des Gesetzes gemacht worden; inzwischen ist auch die Gemeinsamkeit der Rechtsgesetzgebung für das ganze deutsche Reich in allen Theilen mit alleiniger Ausnahme des bürgerlichen Rechts bereits verwirklicht worden, und auch für letzteres ist wenigstens die Competenz des Reichs zweifellos und festgestellt.

Genug, es scheint an der Zeit, an eine Revision des Haftpflichtgesetzes Hand zu legen, und es sind denn auch mehrfache Anregungen dazu bereits erfolgt, theils in der Form von Anträgen, Interpellationen u. dergl. m. im Reichstage selbst, theils auf dem Wege der Petition von außerhalb desselben. Jene ersteren bezweckten theils eine Erweiterung des Kreises der haftpflichtigen Gewerbe, theils Aenderungen in Bezug auf die Beweislast. In letzterer Beziehung ist unseres Wissens wiederum Leipzig mit gutem Beispiel vorangegangen; von da aus sind in jüngster Zeit gleichzeitig zwei ihrem Inhalte nach ziemlich ähnliche Petitionen um Erweiterung des Haftpflichtgesetzes an den Reichstag gerichtet worden, die eine von der „Gemeinnützigen“, die andere von der „Polytechnischen Gesellschaft“, also beide wiederum aus dem Kreise der Besitzenden, beziehentlich der Arbeitgeber.

Nur die erstere ist bisher veröffentlicht worden. Sie erbittet eine Erweiterung des wichtigen § 2 des Haftpflichtgesetzes nach zwei Seiten hin, einmal durch Aufnahme sämmtlicher Gewerbe, einschließlich der Landwirthschaft, in das Gesetz, zweitens durch eine erleichterte Beweisführung zu Gunsten der Beschädigten. Nach dieser Petition wäre § 2 so zu fassen:

„Jeder Unternehmer eines gewerblichen Betriebes – einschließlich der Landwirthschaft – haftet für den Schaden, der dadurch entsteht, daß im Betriebe seines Gewerbes durch sein Verschulden ein Mensch getödtet oder körperlich verletzt wird. Desgleichen haftet ein solcher, wenn er eine auf Schadensverhütung abzielende polizeiliche Anordnung der zuständigen Behörde vernachlässigt hat, für alle körperlichen Unfälle, welche durch Beobachtung der betreffenden Anordnung hätten vermieden werden können, ebenso, als hätte er dieselben verschuldet, wofern er nicht nachweist, daß der Unfall auch bei Beobachtung der polizeilichen Anordnung nicht hätte verhütet werden können. Endlich haftet derselbe auch für den unter gleichen Voraussetzungen von einem Bevollmächtigten oder Repräsentanten oder einer zur Leitung oder Beaufsichtigung des Betriebes oder der Arbeiter angenommenen Person durch ein Verschulden in Ausführung der Dienstverrichtungen herbeigeführte Schaden.“

In dem jetzigen Stadium, wo eine Revision, eine Erweiterung oder Ergänzung des Haftpflichtgesetzes von 1871 seitens der Reichsgewalten in ziemlich sicherer und wohl auch nicht ferner Aussicht steht, schien es uns angemessen, die öffentliche Meinung und insbesondere die bei diesem Gesetze zunächst Betheiligten, Arbeitgeber und Arbeiter, über diese Materie – in Bezug auf welche zum Theil noch so manche irrige Ansichten und so manche vorgefaßte Meinungen bestehen – so viel wie möglich zu orientiren und aufzuklären. Und es konnte dies wohl nirgends besser geschehen, als in der überall hin, selbst bis in die Wohnungen der Arbeiter verbreiteten „Gartenlaube“.

Wir beschränken uns für heute auf die obigen Andeutungen über den Inhalt, die Tragweite, die Vorzüge und die Mängel des bestehenden Haftpflichtgesetzes, so wie über die bereits gegebenen Anregungen zu Abänderungen desselben. In einem zweiten Artikel, der bald folgen soll, gedenken wir über die bisherigen praktischen Wirkungen des Haftpflichtgesetzes Einiges beizubringen.

(Schluß folgt.)




Altdeutsche Sagenstätten.
Von M. v. Humbracht.
I.

Wo im baierischen Unterfranken das Alzenauer Freigericht seinen dunkel bewaldeten Höhenzug an Dettingen vorüber gen Aschaffenburg erstreckt, haftet in der weiten Ebene, die der Mainstrom durchschneidet, das Auge vorzugsweise an einem Punkte: während diesseits alle die verstreut liegenden Ortschaften von nur einem niedrigen, sehr bescheidenen Kirchthürmchen überragt werden, streben jenseits des von Ufergebüschen dicht umsäumten Flusses mehrere äußerst stattliche Thürme hoch und schlank gen Himmel, und auch der kleine Häusercomplex, der sich da am Mainufer hindehnt, erhebt sich über einen „dörflichen“ Anstrich. – Wenn wir die Mainfähre, die uns über den Strom getragen, verlassen, stehen wir auf hessen-darmstädtischem Gebiet, und zugleich auf dem althistorischen Boden von „Ober-Mühlheim“, das durch Kaiser Karl den Großen seinen neuen Namen „Seligenstadt“ erhielt.

Der Geschichte nach hatte Kaiser Karl zu Seligenstadt einen ähnlichen Reichspalast, wie zu Frankfurt am Main wie zu Tribur und Ingelheim am Rhein. Ein uralter, mit etlichen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 280. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_280.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)