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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


Freiheit der Bewegung gekommen ist. So soll ihm wenigstens die alte gut deutsche Gerechtigkeit werden, daß die Nachwelt ihn würdigt und – beklagt.

Friedrich Güll wurde am 1. April in der fränkischen Kreishauptstadt Ansbach geboren. Seine Wiege stand in einem sehr bescheidenen Stübchen; der Vater war, wie der Großvater schon, ehrsamer Goldschmied und verdiente, soviel die Familie zum Leben brauchte. Aber der Vater starb, als Friedrich noch ein zartes Kind war, und dieser kam abwechselnd zu den beiden Großmüttern, von denen die eine ihn in kargender Zucht hielt, die andere grenzenlos verwöhnte. Um für den Sohn eine consequente, ernste Führung zu gewinnen, entschloß sich daher die Mutter zu einer zweiten Ehe. Der Stiefvater war wirklich ein treuer, rechter Vater. Er ließ sich die geistige Heranbildung Friedrich's sehr angelegen sein. Während er selbst des Schneiderhandwerks pflegte, mußte der Knabe die Vocabeln in der neuen Fibel entziffern und auf leichtfaßliche Weise an den Schneiderutensilien das Rechnen lernen.


Friedrich Güll


Der talentvolle Junge machte rasche Fortschritte, und bald ward er der Lector des Vaters, dem er seine Leibblätter vorlesen mußte. Das Herumtummeln im Freien, die so sehnlichst gewünschten häufigen Ausflüge in Feld und Wald blieben ihm durch eine Schrulle des Alten lange ganz versagt, und als die Mutter sie endlich in beschränktem Maße erwirkt, kostete sie der Knabe mit wahrer Leidenschaft, selbst auf die Gefahr empfindlicher Strafen hin. Und diese seltene Liebe zur Natur hat ihn, wie bereits eingangs bemerkt, durch das ganze Leben begleitet.

Genügend vorbereitet, trat er in die Volksschule ein. Auch dort machte er rasche Fortschritte. Privatim schöpfte er viel geistige Nahrung aus einer kleinen, aber ausgewählten Bibliothek, die er eines Tages in einem entlegenen Theile des Hauses in einer Kiste entdeckte. Während der freien Zeit wurde stundenlang gelesen und memorirt.

Mit zehn Jahren trat Güll in die Realschule seiner Vaterstadt ein; der Stiefvater that es nicht anders, trotzdem die Verhältnisse des gichtisch gewordenen Schneidermeisters bedenklich zurückgegangen waren. Hier erst thaute der Knabe recht auf, hier lernte er für die Gedichte von Goethe, Schiller und Uhland, vermittelt durch das Lesebuch, schwärmen; aber ein geschickter Unterricht fesselte sein Interesse auf allen Gebieten.

Da starb auch der zweite Vater, und vorbei war es mit allen Träumen von Gymnasium und Hochschule. Mit blutendem Herzen stand der reichbegabte Schüler vor jenem verhängnißvollen Scheideweg des Lebens, an welchen das harte Geschick so manchen strebsamen Jüngling stellt. Bei den unzulänglichen Mitteln mußte er jedem höhern Studium entsagen; zu einem ehrsamen Handwerke konnte er sich nicht entschließen, und so wurde er Volksschullehrer.

Die Zeit der Vorbildung zu diesem Berufe, welche im Seminar zu Altdorf abschloß, war in wenigen Jahren mit sehr gutem Erfolge zurückgelegt; sie hatte Güll, außer anderem, eine gute musikalische Ausbildung eingetragen, die er mit ganz besonderer Vorliebe umfaßte. Eine übervölkerte Landschule, zu Flachslanden, wurde ihm jetzt als Arbeitsfeld angewiesen. Das kam dem spätern Jugenddichter sehr zu statten. Das Kinderlied ist ein Sprößling der lyrischen Volkspoesie. Die elementare Form, der einfache Gedanke, der klare bündige Ausdruck, die plastischen Bilder sind beiden gemeinsam. Die geistigen Wurzeln des Jugenddichters müssen ihre Nahrung aus den verschiedenen Gattungen der Volkspoesie schöpfen.

Der Volks- und Kindeston schlug dem Landschullehrer stündlich an's Ohr. Das große, lehrreiche Buch des Volks- und Kinderlebens lag vor ihm aufgeschlagen. Es gehörte nur ein empfänglicher Sinn, ein verständnißvolles Gemüth und ein redliches Streben dazu, um die unbeachteten Sprachschätze zu heben und sich nutzbar zu machen. Daß Güll dies that, bezeugen die reichen Früchte seines Schaffens. Auch für sein späteres großes Reimgeschick legte er hier den Grund: er ging, um den Entwurf einer Lesefibel auszuarbeiten, ein ganzes Wörterbuch durch und prägte sich damit einen seltenen Wortschatz ein.

Nach längerem treuem Wirken brach Güll sein Zelt ab und siedelte in seine Geburtsstadt Ansbach über. Daselbst wirkte er sieben Jahre, theils an der Armenschule, theils am Theresianum, einem städtischen Institute. Er war ein geborener Lehrer, ausgerüstet mit freudiger Lebensanschauung, einem kindlichen Sinne, Liebe und Verständniß für die Kleinen, Treue für den Beruf. Ein ganzer Kreis von Schülern, denen es vergönnt war, einen Blick in sein reiches Gemüthsleben zu thun, blickte mit Dank und Verehrung zu ihm auf. Es kam Güll schwer an, sich loszureißen von einer Wirkungsstätte, mit der er durch tausend Wurzeln des Seins verwachsen war. Doch in der Landeshauptstadt sprangen so reiche geistige Quellen. Das muß einen wissensdurstigen Mann mächtig anziehen. Er ergriff daher abermals den Wanderstab, um eine städtische Schulstelle in München anzutreten. Leider waren auch hier die Verhältnisse stärker als ein strebsamer Wille. Güll hatte bereits eine Familie gegründet und diese, mehrere Köpfe zählend, war auf das bescheidene Jahreseinkommen von – dreihundert Gulden angewiesen.

Der sorgsame Vater mühte sich im Erwerbe. Doch der Dichter ging nicht im Ernährer unter. Des Tages war Pegasus im Joche, des Abends wurde er für kurze Zeit frei.

Schon seit früheren Jahren machte Güll dichterische Versuche auf dem Gebiete der Kunstlyrik, und auf diesem Gebiete Vollendetes zu leisten, war und blieb die höchste Sehnsucht seines Lebens. Als er an dem berauschenden Kelche der Liebe geschlürft, da quollen seine Gefühle zum ersten Male in Versen hervor. Auch als Erzähler versuchte er sich. Sein eigentliches Feld fand er aber, als er auf das „Kinderlied“ kam.

Einst geriethen durch Zufall – so erzählte Güll dem Schreiber dieser Zeilen wiederholt – die Ammenreime in „des Knaben Wunderhorn“ in seine Hände. Diese regten ihn mächtig an. Er las sie, las sie wieder, legte das Buch aus der Hand und – der Jugenddichter war in ihm zum Bewußtsein gekommen. Rasch entstanden einige Lieder, unter ihnen auch das bekannte Recrutenlied „Wer will unter die Soldaten“, das bald auf den Kücken'schen Flügeln des Gesanges seinen Siegesflug durch alle deutschen Gauen antrat. Der Einzug eines Regiments zur Wachparade regte dieses Lied im Dichter an. Jetzt reihte sich Strophe an Strophe, Lied an Lied. Bald war es eine stattliche Sammlung.

Mit diesem poetischen Schatze eilte der Dichter zu Meister Gustav Schwab, um zuerst dessen gewiegtes Urtheil über seine Gedichte zu hören, ehe er sie durch den Druck einem größeren Kreise vorlege. Güll, ein seltener Meister im Vortrag, führte dem strengen Richter einige seiner poetischen Kinder vor. Wie sie diesem gefielen, beweist die Thatsache, daß er die Drucklegung (1837) selbst in die Hand nahm und den Gedichten in Form einer warmen Vorrede einen schönen Geleitsbrief mit auf den Weg gab. Darin sagt er unter Anderem: „Sie athmen so viel Unbefangenheit und verbergen ein besonnenes Dichtertalent. Die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 277. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_277.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)