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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


Wenn die blauen Mappen hervorgeholt wurden, war kein Ende des Lesens, Fragens und Berichtens zu finden, und die Stunden flogen mit Windeseile dahin, sodaß ich Mittag- und Abendmahlzeit über den vergilbten Herrlichkeiten versäumte und in ewig sich erneuernde Conflicte mit der Ordnung des Vaterhauses gerieth:

„Wen erlabend die Himmlischen nähren,
Kann der irdischen Speise entbehren.“

Da zeigte sich Holtei als rechter Geisterbeschwörer; denn er ließ mit den Manuscripten zugleich ihre Autoren erscheinen, und aus den kümmerlichen Resten ihres Erdendaseins wuchsen die leuchtenden Gestalten herrlich empor. Das enge Gasthofzimmer erweiterte sich zur Ruhmeshalle der deutschen Dichtung, und ihre Heroen schritten grüßend an dem Nekromanten und seinem begeisterten Adepten vorüber. Klopstock und Lessing , Goethe und Schiller, Herder und Wieland , Hölderlin und Hölty, Tieck und Schlegel, Arnim und Brentano, Bürger und Kleist, Immermann und Heine, Grillparzer und Lenau, Platen und Rückert, Uhland und Chamisso, Hebbel und Grabbe, Strachwitz und Eichendorff – sie alle lernte ich gleichsam persönlich kennen, und als ich dann später ihre Werke las, machten mir diese einen doppelt tiefen Eindruck und erschienen wie vertrauliche Mittheilungen.

Solche Literaturstunden, von solchem Lehrer gegeben, werden mir schwerlich ein zweites Mal wieder kommen. Heute bewundere ich die unendliche Geduld, Nachsicht und Güte meines väterlichen Freundes und begreife nicht, wie er seine Zeit dem blutjungen Menschen widmen konnte, der damals dies Alles als etwas Selbstverständliches in Empfang nahm und kaum ein „Danke schön!“ dafür sagte. Aber eben diese Selbstlosigkeit war charakteristisch für Holtei, wie er sie denn auch nach einer andern Seite hin übte, indem er mit verschwenderischer Freigebigkeit fortschenkte, was er besaß. Für den Armen der bei ihm anklopfte, hatte er immer noch einen Thaler übrig, obwohl er selber Noth litt und erst wenige Jahre vor seinem Tode durch die Güte des Kaisers und als Pensionär der Schiller-Stiftung vor dem äußersten Mangel bewahrt wurde. So lange er konnte, hat er seinen Unterhalt sich ehrlich verdient, wenn auch die Feder manchmal seiner müden Hand entsinken wollte und er unter der Last widerwilliger Arbeit seufzte.

Wie oft, wenn ich ihn zur festgesetzten Stunde am Schreibtisch überraschte, erging er sich in Expectorationen, wie:

„Gut, daß Sie kommen und daß ich die nichtswürdige Schmiererei liegen lassen darf! Schreiben oder Hungern – mögen Sie nie vor dieses traurige Dilemma gestellt werden! Es ist eines so schlimm wie das andere, und ich bin noch gut daran, die Leute kümmern sich hier und da noch um das dumme Zeug; sonst müßte es heißen: Schreiben und Hungern! Und gar heutigen Tages! Wer liest denn noch Bücher, wie man sie früher las, mit Andacht, Behagen und Ruhe? Und wer kauft sie? Die gnädige Frau Baronin oder die Frau Oberstlieutenant oder die Frau Regierungsräthin wollen überhaupt nur reden über ein Buch, und ihre Zeitung bringt ihnen die übliche alberne Anzeige mit einem Extract der Geschichte, der dem Autor das Beste vorweg nimmt. Allenfalls schicken sie dann in die Leihbibliothek und schämen sich nicht, einen Band in ihre hochwohlgeborene Pfote zu nehmen, der aussieht, als wenn er drei Tage im Rinnstein gelegen hätte. Pfui Teufel! Dieses hochnasige, knickerige und unverschämte moderne Bildungsgesindel, das seine Nase in jeden Quark steckt und über Alles das Maul bis an die Ohre aufreißt! Für diesen Pöbel strengt unsereiner sein abgemartertes Gehirn an. Keine Zeile mehr würd’ ich auf’s Papier setzen, wenn ich’s nicht nöthig hätte. Geschenkt wollen sie Alle haben und thun noch, als ob sie einem eine besondere Ehre erwiesen, wenn sie das Buch huldvollst und geneigtest entgegennehmen und dem armen Verfasser das Geld aus der Tasche stehlen. Wenn ich die Groschen beisammen hätte, die mich meine Bücher schon gekostet haben, weil ich sie immer und immer wieder kaufen muß, um sie meinen ‚Verehrern‘ zu dediciren – es wäre ein hübsches Sümmchen.“

Sobald Holtei am Arbeitstische saß, einem ungeschlachten, die halbe Wand ausfüllenden einfachen Möbel, das er nach eigener Angabe sich hatte anfertigen lassen, spielte er mit einer Kugel von braunem Bossirwachs, die er in der linken Hand hielt, knetete und rollte. Deutsche Bücher, besonders Romane, las er nur, wenn er sich für den Autor interessirte. Geistige Nahrung und Anregung zog er meist aus französischer Lectüre, die er sehr hoch schätzte. Auch wollte er in seinem Stil von Niemandem beeinflußt sein und haßte nichts so sehr, wie Nachahmung und Schablone. Eine Bibliothek besaß er nicht; seine Bücher lagen sämmtlich in Graz bei seinen Angehörigen, und nur das Allerunentbehrlichste hatte er in einem kleinen Glasschranke im Vorzimmer untergebracht. Dazu gehörten Rückert’s sämmtliche Werke, ein Geschenk des Verlegers Sauerländer, Goethe's und Christian Günther’s Gedichte, Béranger und Horaz. So wenig er für die moderne Literatur im Allgemeinen eingenommen war, so innig und warm verehrte er einige der neuesten Dichter, vor Allen Paul Heyse als Novellisten und Emanuel Geibel als Lyriker. Das „Geheimniß der Sehnsucht“ mit seinem Heimweh nach der Ewigkeit, eines der schönsten und tiefsinnigsten Gedichte Geibel’s, rührte ihn zu Thränen. Was ihn bei beiden Dichtern mit lebhaftester Bewunderung erfüllte, der er nie genug rühmende Worte zu geben wußte, war die hohe künstlerische Vollendung ihrer Form, als hätte er gefühlt, woran es ihm selber am meisten gebrach.

Im Uebrigen war er, wie aus vielen seiner mündlichen und schriftlichen Aeußerungen hervorgeht, kein Freund der modernen Zeit mit ihren Eisenbahnen, Correspondenzkarten, Parlamentsreden, Journalen, Reclamemachern, Schwindlern und Clavierspielern. Das Alles warf er bunt durch einander in Einen Topf und pries dann die guten alten stillen Tage von ehemals, die golden in seinem Gedächtniß fortlebten. Es war unter Umständen gefährlich mit ihm zu politisiren und zu philosophiren; er wurde leicht verstimmt und trug seinen Groll dem, der ihm widersprochen hatte, lange nach.

In der Politik stand ihm das autokratische Königthum der Hohenzollern und die Hausmacht des preußischen Staates auf unantastbarer Höhe; er nannte sich mit Vorliebe den alten Royalisten und wollte von der Wandlung der Dinge, die in den siebenziger Jahren eintrat, und vom deutschen Reiche anfänglich wenig wissen. Wurde er von Thatsachen und schlagenden Beweisgründen in die Enge getrieben, so schnitt er die Debatte kurzweg ab und deckte sich den Rückzug mit drolligen Redensarten wie: „Daraus mag einer von Euch Gelehrten klug werden; ich bin zu alt und zu dumm für Eure Weisheit von gestern.“ Oder er sagte: „Was geht mich die ganze Wirthschaft an? Ich hab’s ja doch bald überstanden; ‚auf einer Wolke will ich sitzen und zusehen wie sie einander unten die Köpfe abreißen.‘“

Hielt er in politischen Angelegenheiten starr an dem überlieferten Autoritätsprincip fest, so dachte er in Gefühls- und Glaubenssachen um so freier und humaner. Er übte Toleranz gegen jede natürliche Schwäche des Herzens und achtete jede ehrliche Ueberzeugung. „Da ist kein Jude, kein Heide, kein Christ – wir sind allzumal Sünder, die des Ruhmes ermangeln“ – in diesen Worten war sein Glaubensbekenntniß enthalten. Priesterlichen Beistand und eine geistliche Grabrede hat er sich vor seinem Ende ausdrücklich verbeten. Und doch beschäftigten ihn die Gedanken über Seele, Gott und Unsterblichkeit bis in die letzten Tage. Ein Skeptiker vom reinsten Wasser, verließ er sich auf nichts als auf seine eigenen Erfahrungen, die ihn zuweilen in abenteuerliche Phantasien verwickelten. Noch kurz vor seinem Tode versicherte er mir mit aller Bestimmtheit, es gäbe keine Unsterblichkeit; er fühle, wie mit den Kräften des Leibes auch die des Geistes allmählich schwächer würden und auslöschten. Und dann meinte er wieder, wenn ein Gott existirte, der sich um jeden miserabeln Kerl und um alle Weltläufe, welche aus Millionen von Gestirnen herumkriechen, bekümmere, so werde er ihm gewiß verzeihen, daß er nicht an ihn habe glauben können. Sei der Geist göttlichen Ursprungs, so vermöge man keinen besseren Gebrauch von ihm zu machen, als zu zweifeln. Der Glaube beschränke, während der Zweifel befreie. Man diene also Gott eher dadurch, daß man seine eigenen Meinungen sich in Kampf und Verwirrung des Lebens bilde, als daß man als gläubiges Schaf hinter einem Leithammel herliefe und sich von den Pfaffen etwas vorreden ließe. Die Atheisten seien die wahren Diener des heiligen Geistes etc.

Bei solchen Ansichten und Sophistereien mochte es befremden, daß Holtei, der obendrein geborener Protestant war, entschieden zum Katholicismus hinneigte. Aber diese Neigung hatte, wie bei vielen künstlerisch angelegten Naturen, ihren Grund in den

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