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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


er ist. Aus irgend einem Schlitzchen oder Riß wird die Wahrheit hervorgucken, wenn noch so kostbare Maskenkleider darüber gezogen sind. Bei ihr kommt Tag um Tag ein weiteres Stück des gesunden Kerns zum Vorschein. Nein, ich hab' ihr schon lange im Stillen abgebeten, und ich mißgönne ihr den Platz an meines Kindes Stelle nicht; denn sie füllt ihn aus als ein braves Weib, als eine treue Mutter. An ihr liegt's nicht – und darüber wollt' ich Dich einmal ernstlich sprechen – an ihr nicht!“

„Sondern an mir. Nun ja, ja, mag sein – ich will mich bessern – ein anderes Mal können wir ja darüber weiter verhandeln. Für heute Nacht habe ich an dem einen Mittel genug, das Du mir verordnet. Es ist ja auch eins gegen Erkältung, vielleicht findet sich da Heilung gegen alle Arten derselben. Gute Nacht!“

Das war nicht der rechte Ton, und die Gräfin, ungewohnt, ihren Neffen in dieser Weise sprechen zu hören, ging kopfschüttelnd von dannen.

Doch eben darum, weil er ihren warmen Worten so zurückweisend begegnet, fühlte sie sich jetzt mehr als je zuvor zu Lisa hingezogen. Die ausgesprochene Meinung hatte mit einem Male auch für sie ein weit größeres Gewicht, als da sie noch in ihren Gedanken sich entwickelte, und der Zweifel daran erschien ihr wie eine Beleidigung an ihr selbst, welche die Zusammengehörigkeit zwischen ihr und der in Schutz Genommenen erst vollends festigte. Sie hatte das Gefühl, die Sühne für fremdes Unrecht mit übernehmen zu müssen. Lisa's Befinden gab ihr Anlaß, zu thun, was ihr bis jetzt noch niemals beigekommen, sie nämlich in ihrem Schlafzimmer aufzusuchen, wohin sie dieselbe, um des leichten Fieberanfalles willen, der auf den Schreck gefolgt, verbannt hatte.

Da saß sie an ihrem Bette, sah in die von der Nachtlampe nur matt erhellten großen traurigen Augen, hielt die kalte schmale Hand in der ihrigen und sprach wie mit einem kranken Kinde – von Diesem und Jenem, nur nicht von der Krankheit selbst.

Und da kam denn auch ein Plan zu Tage, mit dem sich die alte Dame schon seit einiger Zeit getragen zu haben schien und der Lisa im ersten Augenblicke mit namenloser Ueberraschung erfüllte.

Mit freudig geöffneten Augen die Worte von den schmalen Lippen der Sprecherin lesend, war sie emporgefahren.

„Du meinst, Tante?“ hatte sie bebend ausgerufen, doch alsbald ließ sie sich wieder sinken.

Sie wußte ja besser, welchen Zweck Rittmeister Steinweg eigentlich mit seinen Besuchen verfolgte.

Lora's eigene Gefühle neigten ja doch nicht ihm zu. Mochte die Tante diese und jene feine Beobachtung für die Möglichkeit sprechen lassen, was wogen dieselben gegen die Gewißheit, die Lisa heute so unzweifelhaft geworden?

Sie unterließ es, einen Gegenbeweis anzuführen, weil sie keine Anklage erheben wollte, und sie hätte das ja gegen zwei Menschen thun müssen, die ihr die liebsten waren auf Erden; so konnte sie sich nur darauf beschränken, ihrem Zweifel Ausdruck zu geben.

„Es ist ja fast, als ob Du Beiden das Glück mißgönntest,“ ereiferte sich zuletzt die Tante ernstlich über diesen „unbegründeten“ Widerspruch.

Lisa lächelte nur schmerzlich. Sie küßte die hagere Hand, welche so weich und gütig, wie die einer Mutter, über ihre Stirn strich.

Wie anders war Alles, als dieses gute, treue sorgende Herz meinte, das sie sich einst verschlossen geglaubt und dessen Werth und Reichthum an edler Liebe sie jetzt erst ganz erkennen gelernt! Und mit dieser Erkenntniß stahl sich auch ein Hoffnungsstrahl in Lisa's Seele. Sie vergegenwärtigte sich Alles, jedes Wort, jeden Blick, und es erschien ihr immer wahrscheinlicher, daß die Tante dennoch Recht haben könnte. War nicht die Art, wie sich ihr Steinweg heute genaht, eigentlich doch ganz anders gewesen, als bei früherer Gelegenheit? Hatte er nicht Reue gezeigt? Konnte er nicht beabsichtigt haben, ihr seine Sinnesänderung mitzutheilen, da sie ihm so scharf das Wort abgeschnitten?

Nicht die kleinste Regung gekränkter Eitelkeit empfand sie über solchen Abfall; der Gedanke, daß es möglich wäre, in dieser Weise doch noch jene feinen Fäden zu lösen, die sie vielleicht nur irrthümlich schon für ein unzerreißbares Gewebe zwischen Witold und Lora gehalten, machte sie zu glücklich, als daß daneben ein unlauteres Gefühl in ihrer Brust Raum gefunden hätte. Was sie jahrelang für die echte Liebe des Herzens gehalten, jetzt wußte sie, daß es ja doch nur ein Spiel der Phantasie gewesen. O, wie wollte sie sich in ihrer Schwester Vertrauen schleichen, zart, mitfühlend, liebevoll in sie dringen und sie sanft hinüberlenken zu Aller Glück und Segen! Er aber – er, ob er sich entwinden lassen würde, was sein Herz mit allen Fasern umfaßt? Er sah ja in Lora seine erste Frau wieder und hatte auf sie seine Liebe übertragen. Da waren wieder Zweifel, Furcht und Hoffnungslosigkeit, mit denen sie rang.

Stunden mußten darüber hinweggegangen sein.

Sie hörte plötzlich ein Geräusch – ein dumpfes Krachen und Brechen, das sie jäh aus ihren sich fieberhaft verwirrenden Gedanken- und Gefühlskämpfen riß.

Sie horchte auf. Das konnte nur aus dem unter ihr gelegenen Zimmer, welches Witold bewohnte, kommen. War er krank geworden? War ihm etwas zugestoßen?

Nun vernahm sie abermals ein Geräusch, und zwar ein Gepolter wie von einem Falle. Er war vielleicht nach dem Glockenzuge gegangen, gestürzt; es war keine Hülfe bei der Hand – – oder verbarg man ihr eine Gefahr?

Eine ungeheure Angst überfiel sie, und ihre krankhaft erregte Einbildungskraft spiegelte ihr alles erdenkliche Unheil vor. Diesmal ließ sie sich keine Zeit, zur Besinnung zu kommen. Sie sprang vom Lager auf, schlüpfte in ihre weichen Schuhe, entzündete ihr Licht und glitt rasch und geräuschlos auf den Gang hinaus und die Treppe hinab, über die der Mond seine breiten Lichtstreifen legte.

Jetzt stand sie an der Thür des Bibliothekzimmers. Sie lauschte, da aber Alles still blieb, öffnete sie dieselbe. Vom Mondschein erhellt, sah sie durch die offenen Portièren Witold's Arbeitszimmer vor sich liegen, aber nichts regte sich darin. Wie war's doch möglich gewesen, daß sie jenen Fall so deutlich zu hören vermeint? Es konnte gewiß keine bloße Sinnestäuschung gewesen sein!

Doch Witold's Schlafzimmer lag jenseits; der Schall hatte sich ja fortpflanzen können, und war dort etwas geschehen, um so schlimmer; denn dann lag er unzweifelhaft hülflos da. Die namenlose Angst, die sie hergetrieben, zog sie nun auch durch das Arbeitsgemach bis an die andere Thür. Jeder Nerv in ihr war in fiebernder Bewegung.

Doch ehe sie die Hand auf die Klinke gelegt, hörte sie die Schritte ihres Mannes an der andern Seite der Thür, und wie bei einem Diebstahl ertappt, fuhr sie zurück; sie fühlte ihre Glieder erstarren. Witold mußte noch nicht zu Bett gewesen sein; das war der Tritt fester Sohlen, wie sie der Landmann an seinem Schuhwerke braucht.

Wenn er sie nun hier fand? Sie glaubte vor Scham vergehen zu müssen. Doch da wandte sich der Schritt und entfernte sich wieder von der Thür. Sie hörte das Klirren eines Glases, und jetzt fühlte sie auch die Beweglichkeit der Glieder wieder zurück kehren. Auf ihrer scheuen Flucht wäre ihr Fuß beinahe an ein Hinderniß gestoßen; ein Brett lag zur Seite des Schreibtisches, wie man es zum Verschlusse einer Kiste verwendet; noch staken die Nägel darin. Es mußte dasselbe jenes Geräusch verursacht haben, das sie unter sich vernommen. Da stand ja auch die Kiste auf dem Schreibtische, gegen das schwere Bureau gelehnt, unterhalb jenes Bildes, das sie vor Jahren aus der Entfernung hier gesehen und vor dem ihr Urtheil gesprochen worden war. Und da – in der Kiste, noch in der Verpackung, befand sich ebenfalls ein Frauenbild – ein zweites – kein Spiegel – nein – es war wirklich ihr Bild! Nicht im Nachtgewande, die hochgehaltene Kerze in der zitternden Hand, sondern im dunklen Seidenkleide, den Rosenschmuck im Haare, lächelte die eine Lisa von oben herab auf die andre, welche hier unten stand und wankte und noch ein paar Schritte that und dann hinsank mit fast stehenbleibendem Herzen und nahezu aufhörendem Athem.

Die Aufregung der letzten Stunden hatte ihr Recht verlangt; die jüngste Erschütterung war die heftigste gewesen. Ihr Bild, ihr eigenes Bild bei ihrem Gatten! So war Alles, Alles anders, als sie mit Furcht, Entsagung, Verzweiflung angenommen! Als die Kräfte sie verließen, da hatte sie nur einen Gedanken: So sterben war Seligkeit! – das Glück hatte ihr die Besinnung geraubt. – –

Jenseits der geschlossenen Thür in seinem Schlafzimmer

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 255. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_255.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)