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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)

„Philistern“ dem Thore eines stattlichen Hauses zusteuerte. – An diesem Abend stand ein Lehrer der Geschichte in seinen Vorträgen über die große französische Revolution vor dem Abschnitt, welcher die Schilderung des Sturms auf die Bastille bringen sollte. Seit Jahren hatte dieselbe eine Anziehungskraft ausgeübt, von welcher nicht blos der Student, sondern auch der gebildete Stadtbürger ergriffen wurde. Wie geräumig auch das Auditorium des Professors war, an einem solchen Abend vermochte es die Menge der Zuströmenden nicht zu fassen; es wird erzählt, daß zur guten Jahreszeit während dieser Stunde sämmtliche Fenster des Saals geöffnet waren, damit die auch den Hof füllende Zuhörerschaft den Worten des als Redner und freisinniger Kämpfer volksbeliebten Mannes lauschen konnte.

Dieser Mann war Heinrich Luden. Die Literatur kennt ihn als „den berühmten Geschichtsschreiber der Deutschen“; Tausende seiner Schüler, die im Verlaufe von nahezu vierzig Jahren seinen Hörsaal gefüllt hatten, verehren in ihm einen unvergeßlichen Lehrer, einen unvergänglichen Leitstern ihrer Bildung und Gesinnung. Auch ich war so glücklich, sein Schüler zu sein und zu denen zu gehören, die er in seiner tagtäglichen Unterhaltungsstunde (von elf bis zwölf Uhr Mittags) gern empfing. Und da ich weiß, daß alle meine Commilitonen von „Luden’s Auditorium“ mit mir nur ein Gefühl der Dankbarkeit gegen ihn belebt, so durfte der zehnte April dieses Jahres nicht vorübergehen, ohne daß wir die hundertjährige Feier des Geburtstages desselben wenigstens in der Erinnerung an ihn gemeinsam begingen.

Wie einfach auch gewöhnlich der Lebensgang eines Gelehrten zu sein pflegt, den jungen Historiker hatte die Zeit dahin gestellt, wo er gründlich selbst empfinden sollte, wie die Geschichte im Sturm gemacht wird. Er war ein sechsundzwanzigjähriger Mann, als er in Göttingen 1806 als Professor der Geschichte nach Jena berufen wurde. Luden’s Lebenslauf bis dahin ist mit drei Worten erzählt: von seinem Geburtsort, dem Pfarrdorf Loxstedt im ehemaligen hannöverischen Herzogthum Bremen, aus hatte er 1796 die Domschule in Bremen, drei Jahre später die Universität Göttingen bezogen, hatte Theologie studirt und schon gepredigt, als er sich für das Geschichtsfach entschied, privatisirte deshalb einige Jahre, war kurze Zeit Hauslehrer bei dem Staatsrath Hufeland in Berlin und begab sich von da wieder nach Göttingen, wo er die Lebensgeschichten von Christian Thomasius und von Hugo Grotius veröffentlichte und wo ihn endlich, auf die Empfehlung Johannes von Müller’s, der Ruf nach Jena traf.

Im Sommer 1806 reiste er mit seinem Gönner Hufeland nach Jena und erlebte hier gleich am ersten Abend das damals von Unzähligen vergeblich ersehnte Glück, dem eben von Karlsbad zurückgekehrten Goethe in einer Abendgesellschaft bei Major von Knebel vorgestellt und von diesem für den nächsten Morgen zu einer Unterredung eingeladen zu werden. Dieselbe dauerte mehrere Stunden und ist von Luden und dessen nachgelassenem Buche „Rückblicke in mein Leben“ wörtlich mitgetheilt, denn sie war nicht nur an sich von hohem Interesse, sondern auch von Bedeutung für das Verhältniß, in welchem der Historiker und Politiker Luden in der Folge zu dem großen Dichter und Minister stand.

Luden hatte, durch Goethe dazu veranlaßt, seine Ansicht über den „Faust“ ausgesprochen und dabei gegen die „hohen Intuitionen“ der Schlegel’schen Erklärung angekämpft, nach welcher der „Faust“ nur „das Bruchstück einer großen, erhabenen ‚göttlichen Tragödie‘ sei, die, in ihrer Vollendung den Geist der ganzen Weltgeschichte darstellend, ein wahres Abbild des Lebens der Menschheit sein werde, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umfassend“, während Luden, nur das Fragment vor Augen, sich an dem erfreute, was des Dichters Wort in seiner wahren Bedeutung ihm sagte.

Obgleich Goethe den jungen Professor zum unumwundenen Aussprechen seiner Ansichten aufgefordert und hinzugefügt hatte: „Vergessen Sie, daß der Dichter des ,Faust‘ mit Ihnen spricht!“ so schien doch Goethe selbst dies nicht vergessen zu haben; denn am Ende der Unterredung zeigte er eine für Luden fühlbare Verstimmung.

Luden miethete vor Allem in Jena eine Wohnung, um in derselben sein bereits in Fässern und Kisten angekommenes Hab und Gut unterzubringen. Dasselbe bestand aus der schönen und werthvollen Ausstattung seiner Frau und seiner Bibliothek. Es war ihm ein wonniges Gefühl, den Sorgen der jungen Hausfrau im Gröbsten vorzuarbeiten, indem er alle Möbeln auspackte und so die freundlichen Räume wohnlich ausstattete. Nur die Betten ließ er in ihren Fässern, und die Wäsche und Kleider und all die Gegenstände, deren Einordnung die Lust der Frau ist, blieben in den Kisten und Koffern. Dagegen prangte seine wohlgewählte Büchersammlung auf den Repositorien; da die Universitätsbibliothek arm an neueren Werken war, so hatte er einen bedeutenden Theil seiner Ersparnisse opfern müssen, um für sein Lehrfach tüchtig gerüstet zu sein; er hatte dies wagen können, weil er in seinem Schreibtisch das fertige Manuskript einer Geschichte von Venedig barg, deren Honorar der Casse wieder aufhelfen mußte. Nur die Einleitung dazu gefiel ihm noch nicht, und er steckte sie zu sich, ehe er den Schlüssel vom Pulte abzog. Nachdem er so Alles zum Einzug vorbereitet hatte, eilte er nach Göttingen zurück, um gegen Mitte October mit Frau und Töchterchen sich in dem neuen Heim niederzulassen und mit dem Wintersemester seine Geschichtsvorträge zu beginnen.

Doch anders lag es im Plane Napoleon’s. Anstatt in das geträumte Paradies des Friedens zu ziehen, zog Luden mit den Seinen dem Kriege entgegen. Einen Begriff davon, wie es damals mit dem Zeitungswesen und der Verbreitung wichtiger Nachrichtens bestellt war, erhält man, wenn man erfährt, daß Luden mit Post von Göttingen bis Lauchstädt, weimarischen Theaterandenkens, gelangen konnte, ohne eine Kunde von der Kriegserklärung Preußens an Frankreich erhalten zu haben. Dort am 13. Oktober angekommen, erlebten sie schon am folgenden Morgen die weltgeschichtliche Ueberraschung, daß der Kanonendonner der Schlachten von Jena und Auerstädt zu ihnen herdröhnte.

Schon am nächsten Tag sahen sie den Krieg in seiner furchtbarsten Gestalt, die Transportzüge Verwundeter, die Schaaren Gefangener und die Truppenmassen der Sieger, die vom brennenden und geplünderten Jena kamen. Luden drang mit Weib und Kind langsam bis Naumburg vor, ließ dort letztere in guter Obhut zurück und kam am 20. spät Abends vor seiner Wohnung an. Heulend trat ihm der Hausbesitzer entgegen. Das Haus, vom Besitzer aus Furcht verlassen, war ausgeplündert und ausgestohlen worden. Zitternden Herzens eilte Luden die Treppe hinauf. Da stand er vor einem entsetzlichen Bilde: Alles, Alles war dahin; die Möbel, der Inhalt der Fässer und Kisten, die zertrümmert umherlagen, alle seine Bücher, und mit dem Schreibpulte auch sein Manuscript – Alles dahin! Er war bettelarm geworden! Schweigend wandte er sich um, und schweigend ging er die Treppe hinab. „Ohne recht zu wissen warum“, lenkte er seine Schritte nach dem Griesbach’schen Hause, und der Zufall hatte ihn gut geführt, denn dieses Haus war, als Quartier des Marschalls Rey, ungeplündert geblieben, und er fand bei den beiden Bewohnern, dem Professor Seidensticker und dem alten Griesbach, Nachtquartier für heute und Ermuthigung für die nächste Zukunft. Mit ihrer Hülfe war seine Wohnung in einigen Tagen wenigstens mit dem allernöthigsten Hausrathe versehen, sodaß er nun Frau und Kind in Naumburg abholen konnte.

„Wie wird sie die Nachricht von dem Verluste ihrer ganzen Ausstattung und all der Dinge, an welchen ein Frauenherz hängt, aufnehmen – wie wird sie den Schmerz verwinden?“ Diese Fragen lagen schwer auf ihm bis zum Wiedersehen seiner Lieben. Dann aber fiel die Last von ihm ab; dann erkannte Luden erst sein höchstes Kleinod: er hatte ein muthiges, hochsinniges Weib, die Noth, die zu Entbehrung und Einfachheit im Leben zwang, kettete die Ehegatten nur um so fester zusammen, und so hinterließ der Krieg ihnen den schwererworbenen Boden eines durch innigste Einigkeit dauernden Glückes.

Luden war vor Allem Patriot. „Von jeher,“ sagt er in der Vorrede zu seinem größten Werke, der „Geschichte des deutschen Volks“, „bin ich der Meinung gewesen, daß Derjenige, den Neigung und Geist zu dem Studium der Geschichte führen, seine Kräfte vor Allem der Geschichte seines Vaterlandes zu widmen habe. Pflicht ist es wohl nicht; aber es scheint mir ein Bedürfniß des menschlichen Herzens; es ist mir so natürlich vorgekommen, daß ich das Gegentheil zu denken nicht vermocht habe. Herodot und Thucydides, Livius und Tacitus haben in gleicher Weise gehandelt; Polybius ist einen andern Weg gegangen, weil er kein Vaterland mehr hatte; und wenn die allgemeinere Bildung

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 246. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_246.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)