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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


Auf dem umbuschten Kieswege, der die Seitenfront entlang lief, stand Witold – aber nicht allein. Er hatte den Arm um Lora geschlungen, die zu ihm strahlenden Auges und lebhaft sprechend emporsah, und er neigte sich eben nieder, einen Kuß auf ihre Stirn zu drücken.

Es war ein jäher Griff, mit dem Lisa Gretchen zurückriß, emporhob und an sich preßte, den Jubelruf der Kleinen auf diese Weise erstickend.

„Still! still!“ keuchte sie und floh, wie wenn sie selber ein Verbrechen begangen hätte. „Hinweg! hinweg!“ schrie es in ihr. Aber das Bild blieb nicht hinter ihr zurück; es verfolgte sie; es stand vor ihr unauslöschlich und unvergeßlich. Getäuscht war sie worden von der eigenen Schwester – ob freventlich in dreister Heuchelei oder unwissentlich in der Unkenntniß des eigenen Herzens, kam hier nicht in Betracht. Erst noch hatte sie gemeint, ein aufkeimendes Gefühl zu entdecken, das sich in kindlicher Ahnungslosigkeit selbst verrieth, und hatte gehofft, es ablenken oder beschwören zu können, und nun war es selbst zur Warnung bereits zu spät. So weit schon, so weit war es gekommen.

Verloren der Weg – für immer verloren!

Zitternd stand sie neben dem Tischchen, zu dem sie unbewußt zurückgeflüchtet, und Gretchen schmiegte sich erschrocken an sie, als Wilhelm aus dem Speisesaale kam und ihr eilfertig berichtete, daß Gäste angelangt seien: der Herr Rittmeister, doch nicht allein, auch Graf Baumbach und Comtesse Anna in demselben Wagen. Der Herr Baron und Fräulein Lora seien eben dabei, sie zu bewillkommnen.

Sie hörte, ohne eigentlich zu verstehen, was ihr gemeldet wurde. Wie eine Schlafwandelnde folgte sie dem Diener durch den Speisesaal. Im Flur stieß sie auf die Gruppe, von der ein winzig kleines blondes Mädchen auf sie zugeflattert kam, das in dem gelben Kleide und dem gelben Strohhute wie ein Canarienvögelchen anzusehen war. Auch das Stimmchen war so zart und fein und konnte dabei so grell schallen.

Sie umarmte und küßte ihre „liebe, liebe Lisa“ und wisperte ihr dabei ein halb Dutzend Geheimnisse in süßer Vertrauensseligkeit zu. Sie habe so viel mit ihrer Busenfreundin zu reden; sie sehne sich nach einem ungestörten Plauderstündchen. Nun wäre es doch entzückend, daß man den ganzen Sommer so mit einander verleben könne. Ob denn die Gerüchte mit Sternberg wahr seien? Baron Lomeda sehe doch recht finster und angegriffen aus. Rittmeister Steinweg aber sei äußerst angenehm, „und findest Du nicht auch, daß er ein so seelisches Auge hat?“ Auf all das fand Lisa nicht ein einziges Wort der Erwiderung; es bedurfte dessen aber auch gar nicht. Comtesse Anna liebte es, beweglich und kindlich zu erscheinen; das stand ihr so gut. Freilich, wenn sie ein bischen zur Ruhe kam und man sie näher betrachtete, fand man sie nicht mehr so ganz in frischer erster Jugend, aber zu solcher Betrachtung ließ sie kaum Jemanden kommen. Sie lachte immer, fragte in einem fort, erging sich in naiven Aussprüchen und umgaukelte auf ihren gelben Schwingen Jedermann in unstetem Fluge, zumeist jedoch Lisa, mit der sie „ein innigeres Band vereinigte“ – war sie doch die eine ihrer beiden Brautjungfern gewesen. Von ihrem Papa hatte sie das leichte, flatternde und unruhige Wesen nicht. In Lisa's Tagebuche war Graf Baumbach mit einem kollernden Puter verglichen, und die Jahre hatten diese Aehnlichkeit kaum gemindert. Er bewegte die Arme, als ob er seine Flügel ausbreiten wollte, indem er schrittweise auf die Hausfrau zutrat.

„Sehen charmant aus, Baronin, charmant! Kleine Ueberraschung, was? Sind erst wieder in Moorstädtel eingetroffen. Charmantes Frühjahr! Haben durch Herrn Rittmeister erfahren, daß er heute hier geladen. Hollah, da fallen wir auch ein! Charmante Idee, was? Werden endlich doch einmal gute Nachbarschaft halten. Hat lange gedauert, bis Sie wieder einmal auf's Land kamen. Sommer und Herbst charmant auf dem Lande. Wollen's uns lustig machen. Schade um Sternberg! Nun, müssen uns an das Officiercorps halten. Charmantes Regiment! Braver Oberst, angenehmes Dienen, charmant beritten! – Ei, sieh da, liebe Gräfin! Guten Winter gehabt? Freut mich. Sehen charmant aus!“

Damit war die Begrüßung zunächst so weit abgemacht, daß sich die Gesellschaft in den Salon begeben konnte. In all dem Lärm hatte sich Gretchen ganz sacht zu Papa geschlichen, der für sein Kind einen herzlichen Kuß hatte – für seine Frau nicht einen Laut, nicht eine Handbewegung; nur ein einziger Blick hatte sie gestreift, bös wie der Strahl aus einer Wetterwolke; stand sie ja eben jetzt Steinweg gegenüber, der sich tief vor ihr verbeugte und sich lächelnd und leise entschuldigte, daß er unabsichtlich Ursache dieses Ueberfalls geworden.

Ein Gutes hatte derselbe doch: daß sich die Menschen nicht allein überlassen waren. Zwei derselben hätten es im Augenblicke kaum ertragen. Lisa gab er zudem noch den willkommenen Vorwand, sich zu entfernen. Sie hatte es nicht ein einziges Mal über sich vermocht, Witold ihren Blick zuzuwenden, auch die förmlichste Begrüßung erschien ihr wie unerträgliche Heuchelei, zu der sie sich nicht zwingen konnte. Der unvorhergesehene Zuwachs an Gästen entschuldigte die Hausfrau, wenn sie selbst noch in der Küche nachsehen und einige nothwendig gewordene Anordnungen ertheilen ging.

Doch war, bis sie hinauskam, Zweck und Absicht vergessen. Die Köchin wandte sich vergeblich an sie; ihre Aussprüche klangen ganz verworren, und zu jedem Vorschlage sagte sie Ja. Sie dachte nicht daran, sich irgendwie nützlich zu machen, Eines oder das Andere zu untersuchen oder zu überwachen, und doch blieb sie hier stehen, als suche sie noch immer etwas in ihrem Gedächtnisse, das sie mitzutheilen vergessen. Es mußte darüber sogar eine ziemliche Weile vergangen sein; denn endlich erschien Lora, blühend, glühend, eifrig und das Lächeln vom letzten Scherzworte der lebhaften Unterhaltung im Salon noch auf den Lippen.

„Ach, mühe Dich doch nicht so sehr! Du wirst ganz erhitzt aussehen,“ redete sie auf ihre Schwester ein, daß die Leute, welche dieselbe so theilnahms- und regungslos wie einen Pfeiler mitten in der Küche hatten stehen sehen, kaum ein respectwidriges Gekicher über die wunderliche Mahnung unterdrücken konnten. „Tantchen läßt Dir auch sagen, Du sollest keine besonderen Umstände machen; es würde schon reichen; dem Grafen sei doch mehr um's Trinken zu thun – Wilhelm solle noch zwei Flaschen von dem Gelbgesiegelten heraufnehmen und ein Fläschchen Süßen für uns Damen. Die Hauptsache aber ist, daß bald aufgetragen werde. – Nun also, es ist ja Alles bereit – so komm doch mit in den Salon!“ Auf dem Gange aber, zwischen den beiden Thüren, hielt sie die Schwester doch noch einmal zurück, im raschen Geflüster ihr die Mittheilung zu machen, warum Witold schon so früh zurückgekehrt sei. „Denke Dir, er hat Alles in Ordnung gebracht! Sternberg ist zu einem ganz annehmbaren Preise verkauft, unsere windigen Erbtheile sind auf Selikau übertragen. Es ist somit Heinrich möglich gemacht, die dortige Mühle zu behalten und sich langsam wieder herauszuarbeiten. Auch für einen tüchtigen geschäftskundigen Compagnon ist gesorgt. Heute Morgen ist Alles endgültig zum Abschlusse gekommen. O, wie glücklich bin ich – der arme Heinrich! Nun freut es Dich denn nicht?“

„Doch, doch,“ versetzte Lisa kalt und ohne Antheil, wobei sie nur mit bitter verzogenen Lippen hinzusetzte: „Und das hat er Dir Alles erzählt – eben Dir!“

„Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Aber wie Du dreinsiehst! Bitte, mache doch kein so starrendes Gesicht! Die freundliche Miene, welche man für den geladenen Gast vorbereitet hat, muß man auch dem ungerufenen zeigen – und zunächst auch dem Manne. – Du verdienst ihn nicht, Lisa! Er vermag Alles; Tante hat Recht: er ist ein Halbgott, und man muß ihn lieben.“

„Muß man? O, gewiß, gewiß – man muß!“

Es kam wie ein Lachen über Lisa's Lippen – krampfhaft, überlaut, unnatürlich. Die Schlange in ihrer Brust dehnte ihre Ringe jetzt, und das Herz fühlte ihren giftigen Biß.




9.

Das Mittagsessen verging, ja Graf Baumbach hatte dasselbe sogar „charmant“ gefunden und der Hausfrau sein Compliment darüber gemacht; man sehe wohl, daß sie sich selbst darum bekümmere, und sie hatte nicht einmal dagegen protestirt und die Schmeichelei, die sie sich so wenig zu verdienen bewußt war, mit jener geräuschvollen Heiterkeit hingenommen, welche heute an die Stelle ihres ruhig gleichmäßigen Wesens getreten war.

Auch der lange Nachmittag war zuletzt rascher vergangen, als von Einzelnen vielleicht gefürchtet worden war. Der Graf, der sich nach Tisch mit Witold zu einem politischen Gespräche zurückgezogen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 238. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_238.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)