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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


Hintergrund bildet. Nach Osten schließt sich durch einen kühnen Bogen die Eremitage, jene Stätte voll unübertrefflicher Kunstschätze, an den Winterpalast an.

Die Lage des kaiserlichen Palastes ist jedenfalls viel hervorragender, als die Bauart desselben; denn es ist schwer, in der riesenhaften viereckigen Steinmasse irgend einen rein durchgeführten Stil wieder zu finden. Die Höhe des Baues, siebenzig Fuß, entspricht, wie bei den meisten großen Bauten Petersburgs, nicht der Breite und Länge, welche letztere 700 Fuß ausmacht, und so großartig auch die Thore, Pforten, Säulen und Thürme im Einzelnen sind, so vermögen es doch diese Kunstwerke nicht, den ersten Eindruck des Ganzen zu verwischen; auch der gelbliche Ton des Palastes ist mehr eigenthümlich als wohlthuend.

Die Hauptanfahrt für den Kaiser und die kaiserliche Familie liegt nach dem Generalstabsgebäude hin; die fremden Gesandtschaften, die Generalität und die hohen Verwaltungsbehörden haben jede ihre besondere Anfahrt.

Ueber 5000 Menschen bewohnen den kolossalen Palast, dessen einzelne Räume sich in dem engen Rahmen dieser Schilderung unmöglich beschreiben lassen, so viel des Erwähnenswerthen sie auch aufzuweisen haben. Die Privatgemächer des Kaisers und der Kaiserin bleiben den Fremden, selbst in Abwesenheit des Hofes, streng verschlossen.


Ein Blick auf den Winterpalast in St. Petersburg.


Wenn man die Prunkgemächer des Palastes durchschreitet, wähnt man sich in das Feenland versetzt; so strotzt Alles von Gold und Silber. Es ist begreiflich, daß in einer Winterresidenz, wo der Tag um die Zeit der Anwesenheit der Fürstlichkeiten so kurz ist, auf die künstliche Beleuchtung ganz besonderer Werth gelegt wird; schönere Candelaber und Kronleuchter lassen sich wohl kaum finden als hier: in allen Ecken stehen auf hohen Sockeln, bald von Gold, bald von getriebenem Silber, bald wieder vom reinsten Krystall vielarmige Leuchter, stets in vollkommener Uebereinstimmung mit dem übrigen Schmuck des Gemaches. So ragen im grünen Malachitsaale, der rund herum an den Wänden in bedeutender Höhe mit schönem grünen Uralsteine getäfelt ist, die hohen Leuchter auf mit demselben Stein getäfelten Quadern. Die Säle des Palastes sind mit vorzüglichen Gemälden, meist Schlachtenbildern, reichlich geschmückt. Der große, in letzter Zeit oft erwähnte Speisesaal ist in seinem oberen Theil von einem engen Gitter von Wachskerzen umgeben, und bei der tageshellen Beleuchtung erglänzen die Gold- und Silberschüsseln auf den großen Prunkbuffets in erhöhtem Glanze.

In diesen herrlichen Sälen vergißt man es leicht, daß man sich im hohen Norden befindet, denn man weilt hier unter Palmen und allen Wundern der südlichen Vegetation; ja die Kunst versteht es, mit der Natur ihr Spiel zu treiben, und erzeugt wie mit einem Zauberschlage die Blumen und Früchte des Frühlings, des Sommers und des Herbstes zugleich, um damit die Wohnungen und die Tafeln des Czaren zu schmücken. Großartige Gewächshäuser stoßen unmittelbar an die Wohnräume und sind stets ein Lieblingsaufenthalt der kaiserlichen Gäste.

Einen besonders behaglichen Eindruck machen die Gemächer der kaiserlichen Tochter, der Großfürstin Marie, die seit der Vermählung ihrer Bewohnerin mit dem Herzog von Edinburgh dem Publicum offen stehen. Auch hier fehlt es nicht an prunkvollen Empfangsgemächern, aber was liebende Fürsorge vermag, wurde hier vereint, um dem Liebling ein freundliches Heim zu schaffen. Große, immer grüne Epheuwände theilen die Zimmer ab und bilden gemüthliche Erker und Ecken, wo schwellende Kissen, weiche Divans aller Art zur Ruhe laden. Neben einem der Empfangszimmer befindet sich ein grottenartiges Gelaß, in das man über breite mit blumigen Teppichen belegte Marmorstufen gelangt; eine plätschernde Fontaine, von üppigen Pflanzen umgeben, nimmt die Mitte des Raumes ein, und in schattigen Lauben, zwischen Muscheln und Blumen verstecken sich die lauschigsten Sitze.

Mit orientalischem Luxus sind auch die verschiedenen Badestuben im Palaste ausgestattet, die in Rußland selbst im Dorfe zu den unentbehrlichen Einrichtungen gehören.

St. Petersburg ist eine zu neue Stadt, als daß sich an seine einzelnen Gebäude viel große historische Erinnerungen knüpfen könnten.[1] Man hat überall den Eindruck des plötzlich Entstandenen[2] man fühlt den Willen des stolzen Kaisers, der in einem Moraste sprach: „Es werde eine Stadt!“ Aber so kühn Peter's des Großen Pläne bei der Anlage der Stadt sein mochten, so würde er dennoch sicherlich staunen, könnte er sehen, was unter seinen Nachfolgern zur Ausführung kam.

Wie viel prunkvoller ist die heutige Behausung der russischen Herrscher, als das bescheidene Häuschen des Begründers der Stadt, das auf der Petersburger Seite steht und von dem aus er seit 1703 die Arbeiten für seine werdende Residenz leitete! Die ersten Steinhäuser entstanden 1810; bis dahin wurde nur mit Holz gebaut, und noch heute finden wir eine große Menge solcher Holzhäuser, die mit ihren doppelten Wänden der Kälte reichlich so gut trotzen, wie die besten Steinmauern.

Dort, wo heute der Winterpalast prangt, stand früher das Haus eines Grafen Apraxin, der es dem Kaiser Peter dem Zweiten vermachte. Nach diesem wohnte die Kaiserin Anna darin. Als aber Elisabeth den Thron bestieg, genügte ihr die bescheidene Wohnung nicht; sie ließ dieselbe niederreißen und berief den italienischen Architekten Rastrelli, der den ersten Winterpalast erbaute. Im Jahre 1765, unter Katharina der Großen, wurde das riesenhafte Schloß bezogen und von der kunstsinnigen Fürstin mit Kunstwerken aller Art reich geschmückt. Katharina's unersättlicher Thatendrang kam ihrem Reiche sehr zu Statten, dessen innerer Ausbau und Verwaltungsorganisation noch heute großentheils auf den unter dieser Kaiserin gebildeten Grundlagen beruhen.

  1. Vorlage: „knüpfe ; könnten.“
  2. Vorlage: „Entstandenenu“
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 193. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_193.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)