Seite:Die Gartenlaube (1880) 187.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


6.

Der Landsitz, den die Freiherren von Lomeda sich bei Riefling zu einer Zeit gebaut, wo die kleine Ortschaft noch ein kaum in's Gewicht fallendes Anhängsel ihrer mächtigen feudalen Herrschaft bildete, war kein stolzes Schloß mit Thurm und Zinnen wie das Herrschaftshaus zu Sternberg. Irgend ein unverehelicht gebliebener nachgeborener Sohn hatte sich nach Jahren ruhmreichen Kriegsdienstes auf diese ihm zugewiesene Scholle der Lomeda'schen Besitzungen zurückgezogen und mitten in dem breiten, von mächtigen Höhen gesäumten Flußthale, am Flußufer selbst, das einfache und ziemlich geräumige Wohnhaus errichtet, den wilden, theilweise versumpften Grund aber mit der Vorliebe der alten Soldaten, die sich gern der Gärtnerei zuwenden, in einen hübschen Park verwandelt.

Der Park war mittlerweile gar stattlich in die Höhe gewachsen, und die Gruppen, Wald- und Buschpartieen legten nun, nach mehr als einem halben Jahrhundert ihres Bestehens, rühmliches Zeugniß von dem schönheitsverständigen Auge ihres Urhebers ab, der mit dieser Parkschöpfung ohne Frage gegen den herrschenden, steifen Hofgeschmack hatte protestiren wollen. An dem Hause aber hatte man, als später das verarmte Geschlecht es als letzten übrig gebliebenen Wohnsitz bezogen, ein Stockwerk auf- und zwei starke Flügel angesetzt, nicht in dem zierlichen Barokstile des ursprünglichen Baues, sondern zweckmäßig und billig, wie man damals etwa Casernen errichtete. In allerneuester Zeit war freilich mit Anbringung von Stuckfriesen und Terracottagesimsen einigermaßen nachgeholfen worden, aber doch war der Bau für ein modernes Landhaus viel zu gradlinig und einfach und für ein Schloß zu unscheinbar, obwohl es den letzteren Titel führte – in der Umgebung wenigstens. Der gegenwärtige Besitzer hatte gesunden Sinn genug, es nur seinen „Hof von Riefling“ zu nennen.

Und ein solcher war es eigentlich auch, denn von hier aus wurden die ziemlich umfangreichen Gründe bewirthschaftet, die nach der Ablösung der bäuerlichen Lasten dem Freiherrn noch geblieben waren. Die vom Wohnhause ein wenig abgerückten Oekonomiegebäude bildeten mit demselben thatsächlich einen großen Hof, welcher durchweg zu praktischen Zwecken benutzt wurde, bis auf den Platz innerhalb der Flügel, wo man um ein Rasenrondel eine gekieste Auffahrt freigehalten hatte.

Heute – der Abend begann eben hereinzubrechen – wäre der weite Raum wie ausgestorben gewesen, wenn dort, wo unter dem Schnee das Rasenrondel lag, sich nicht ein kleines dicht vermummtes Mädchen mit einem großen, ein wenig schwerfälligen Mann und dem struppigen Wolfshund, dessen Obhut der Hof empfohlen war, um ein mächtiges weißes Ungethüm getummelt hätte, einen Schneemann, der, mit einem alten Stallbesen statt der Hellebarde im Arm, starr und steif Wache hielt.

In einem der Zimmer des Erdgeschosses aber, dessen Fenster nach dem Flusse gingen, saß indessen Lomeda mit seiner Schwiegermutter in eifrigem Gespräch. Es wurde schon allmählich dunkel in dem kleinen, an den Speisesaal stoßenden Gemach, das, vor dritthalb Jahren neu und geschmackvoll eingerichtet, eine Art von Kaffee- und Rauchzimmer, seit jedoch die Gräfin allein auf Riefling hauste, deren gewöhnlichen Aufenthaltsort bildete. Noch war keine Lampe angezündet, aber der Gluthschein aus dem geöffneten Kaminofen, vor welchem Witold in den Kohlen schürend saß, beleuchtete seine finstern unmuthigen Züge, auf welchen die ältliche Dame ihren Blick sorgenvoll, nachdenklich, doch wieder mit einer nicht ganz verhehlbaren heimlichen Befriedigung ruhen ließ. War unter all dem, was sie über seine Zukunftspläne und die Ursachen zu dieser Neugestaltung gehört, viel sie Bekümmerndes gewesen, so fand sich doch auch manches dabei, was ihr Genugthuung gewährte. Sie hatte die zweite Heirath ihres Schwiegersohnes nie mit allzu günstigen Augen betrachtet, nicht etwa, weil es, bei allem Reichthum der Nachfolgerin ihres Kindes, doch nur eine „Müllerstochter“ war, die er heimführte, sondern vielmehr weil mit der Heirath die Uebersiedlung in die Hauptstadt verbunden war. Der Gräfin, die nach ihren Neigungen nicht begriff, wie man das freie Landleben mit dem Zwang und der Hast einer großstädtischen Existenz vertauschen und dazu sich noch gar in das abnützende freudelose Joch des Staatskarrens anspannen mochte, erschien der Entschluß des Barons nicht als das Ergebniß seines freien Willens; sie schrieb ihn dem Ehrgeiz und der Lebenslust der Braut zu, und meinte, um diesen Preis habe Witold die Mittel erkauft, seinem verkommenen Besitze aufzuhelfen.

Wie hatte sich das nun alles gewendet!

Das Geld war dahin, die bedürfnißvolle Frau aber mit ihrer Gleichgültigkeit gegen die Mühen und Freuden der Wirthschaft – sie war geblieben. Zum Glück konnten die Arrondirungen und Verbesserungen dem Gute nicht wieder genommen werden, es war nunmehr den erhöhten Anforderungen gewachsen, wenn der Herr fortan selbst willenskräftig mit Hand anlegte und sich in seinem engen Kreise beschied.

Freilich schien in der kurzen Zeit von Lomeda's Stadtaufenthalt das Landleben seine Reize auch für ihn völlig verloren zu haben. Die Stimmung, die sich eben wieder in seinem düstren Ausruf verrieth: er sei müde und wolle nichts Besseres, als sich hier in der Einsamkeit begraben, ängstigte die besorgte alte Dame.

„Begraben? begraben?“ erwiderte sie kopfschüttelnd. „Tritt der Mensch denn aus dem Leben, so lange er einen Zweck hat, zu dessen Erreichung er Kopf und Arme braucht?“

„Und habe ich denn einen Zweck?“ fragte er in durchbrechendem Unmuthe.

„Versündige Dich nicht!“ rief die Gräfin erschrocken und die etwas hagere Hand gegen ihn ausstreckend, als wünschte sie so das frevelnde Wort zu beschwören. „Hat man denn darum keinen Lebenszweck, wenn man irgend ein ehrgeiziges Ziel oder einen Beruf, der unseren Talenten besonders zusagte, aufzugeben gezwungen ist? Du hast aufgehört an der Gesetzgebung mit zu wirken – arbeite jetzt an ihrer Ausführung durch persönlichen Einfluß und Beispiel! Das Landvolk braucht ehrliche Führer und Vorbilder. Nicht einmal ich habe mich bis jetzt zwecklos auf Erden gefühlt – trotz meiner Kränklichkeit und Schwäche.“

„O Mama, Du hast hier zum Rechten gesehen, besser als ein Mann.“

Die Gräfin nickte geschmeichelt über den Lobspruch, der ihr auch nach ihrer eigenen Ueberzeugung gebührte, verlor aber dabei keineswegs den angesponnenen Faden.

„Bis jetzt ist es gegangen mit dem alten Borsch. Der will nun aber auch Feierabend machen und zu seiner Tochter ziehen. Einem jungen Verwalter von der neuen Schule fühle ich mich nun ganz und gar nicht gewachsen. Wer weiß, was man für einen Menschen findet, welche Schrullen er mitbringt, welche Eigenschaften? Vielleicht heißt's auch, rasch nach einander ein paarmal wechseln; das thut nicht gut; wo solche Unsicherheit eintritt, da soll des Herrn Eigenart der Fels sein, an den sich Alles hält und an dem sich auch jeder Eigenwille und der Widerstreit der Meinungen bricht; Du wirst genug zu thun bekommen, und ich wünschte nur, daß Du auch eine kräftige Gehülfin zur Seite hättest, die Liebe zur Sache fühlt, denn ich werde von Tag zu Tag hinfälliger, und ich fürchte, es wird nicht gar lange mehr –“

„O Mama, sprich doch nicht so! Es thut weh, das zu hören,“ unterbrach er sie, ihre Hand ergreifend, die er zärtlich drückte.

„Thut es das? Nun denke, wie es mir bei den Worten ist, die Du mir zu hören gabst! Du bist ein gesunder, kräftiger Mann, in der Blüthe Deiner Jahre, warum sollst Du nicht für Dich allein schon leben? Aber Du hast auch ein Kind, ein liebes herziges Ding. Sieh Dir Gretchen an und sage dann, daß es Dir gleichgültig ist, was aus diesem Kinde wird!“

„Du hast Recht; mir bleibt noch die Liebe zu meinem Kinde.“

„Und – zu Deiner Frau,“ setzte die Gräfin wieder weich, aber doch mit Nachdruck hinzu. „Und hättest Du sie selbst nicht lieben gelernt, wie ich aus den einsilbigen Berichten über sie fast schließen muß – Du bist vielleicht zu ihrem Glücke nöthig.“

„Zu ihrem Glücke?“

Er lachte kurz und dumpf auf. Was ihn bewegte, ließ sich aber in seinen Zügen nicht mehr lesen; denn er war, den Schürhaken wegstoßend, vor dem Ofen aufgesprungen, und sein Gesicht kam so aus dem Bereiche des Feuerscheines. Sollte er jetzt in die Brusttasche greifen und den zerknitterten Zettel hervorholen, den er gestern Abend aus der rachsüchtigen Hand der von ihrer Herrin brüsk fortgeschickten Kammerjungfer entgegengenommen hatte? Witold hatte ihn wohl ein Dutzend Mal gelesen, an's Licht gehalten, um ihn zu verbrennen, und dann doch wieder zurückgezogen und aufbewahrt.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 187. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_187.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)