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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


thun. Er datirte doch wohl von der letzten Nacht her, und – da stand sie wieder vor dem völlig Unerklärten.

„Ja, willst Du denn gar nicht aussteigen?“ hatte inzwischen das muntere Plaudermäulchen gefragt, und sich auch sogleich eine Antwort zusammengestellt. „Just verlockend ist diese Kibitka nicht, aber freilich noch wohnlicher als das Haus gegenwärtig, gemüthlicher jedenfalls. Weißt Du was? Ich setze mich mit hinein und dann: fahr’ zu, Kutscher! Wir nehmen Reißaus – das wäre das Allerbeste.“ Und sich ganz nahe zur Schwester hinbeugend, fuhr sie flüsternd fort: „Nun, da Witold nicht mitgekommen, ist ja ohnehin guter Rath theuer. Richard ist wie ein angeschossener Eber – gerade hat’s auch wieder allerlei andere Ueberraschungen gegeben. Ich wollte beinahe, man hätte mich nicht geholt, wiewohl ich eigentlich froh bin, daß ich nicht wieder in das Institut zurück muß. Ich müßte mich ja unter den Zöglingen und vor den Damen schämen.“

Ein Livréediener war mittlerweile herbeigekommen; er hatte die große Glocke gezogen und die ihm vom Kutscher zugelangten Koffer in Empfang genommen; dann war er Lisa beim Aussteigen behülflich. Die beiden Schwestern umarmten sich, und es waren herzliche Küsse, die sie mit einander wechselten.

Wie sie so Arm in Arm über die Vorstufen in’s Haus traten, bemerkte Lisa erst, um wie viel ihre Schwester sie überragte. Stehen bleibend, maß sie dieselbe noch einmal mit wohlgefälligem Blicke und streichelte ihr die Wange.

„Wie groß und schön Du geworden bist!“ sagte sie lächelnd.

„Ach, kannst Du mir nichts Angenehmeres sagen?“ entgegnete die Gepriesene mißmuthig. „Alle ertheilen mir ein Wohlverhaltenszeugniß für meine anständigen Bemühungen im Wachsen. Ich bin ja kein kleines Mädchen mehr. Mit siebenzehn Jahren hat man die Kinderschuhe ausgetreten, sollt’ ich meinen, und braucht sich nicht mehr solche zweifelhafte Schmeicheleien sagen zu lassen, weißt Du. Ich würde mich bedanken, wenn mir mein Tänzer auf dem Balle damit kommen wollte. Ja so –“ sie stockte plötzlich, und wehmüthig setzte sie hinzu: „Mit den Bällen ist es nun ja wohl aus. Wie schade! Ich tanze so überaus gern.“

(Fortsetzung folgt.)




Die niederdeutschen Bauern (Boers) von Südafrika.
Von Ernst von Weber.

Von Neuem dringt zu uns aus dem fernen Südafrika eine aufregende Botschaft. Nicht die schwarzen Zuluschwärme mit ihrem todverachtenden Anstürmen und ihren ohrenbetäubenden Kriegsgesängen sind es diesmal, es ist ein weißer Stamm, das stählerne Hünenvolk der Boers, das unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt. Die gesammte niederdeutsche Bevölkerung von Transvaal rüstet sich zum Aufstand gegen die verhaßte englische Regierung. Ein armes Volk von Hirten und Ackerbauern, höchstens 40,000 Seelen zählend, wagt es, einer Weltmacht in kühnem Trotz den Fehdehandschuh hinzuwerfen, einer Weltmacht, die in fünf Erdtheilen über 290 Millionen Unterthanen gebietet, mit ihrer Flotte alle Meere beherrscht und dazu sich im Besitze reichster und unversiechbar fließender Geldquellen befindet.

Die Empörung, welche das Volk von Transvaal zum Aufstande gegen die Engländer treibt, hat ihre tiefe Wurzel in dessen verletztem Rechtsgefühl und der es beseelenden glühenden Vaterlandsliebe. Vor vier Jahren wurde ihnen ohne einen Schatten von Recht ihre Republik entrissen, die sie mit zäher Energie und unermüdlicher Geduld auf den weiten Gebieten errichtet hatten, welche durch sie nach und nach den Schwärmen feindlicher und blutdürstiger Wilden abgenommen worden waren, um sie europäischer Cultur zu erschließen. Bei zwei großen Volksversammlungen, von denen die erste in Wonderfontein, die zweite in Doornkop abgehalten wurde, faßten die Boers kürzlich zwei Resolutionen gegen die britische Regierung, welche das Ziel des Aufstandes deutlich kennzeichnen. Laut der ersten einigten sie sich durch feierlichen Eid zu einem Bunde, um das unbefleckte Erbe der Väter den Kindern durch Wiederherstellung der Republik zu erhalten. Durch die zweite Resolution wird der Vicepräsident zum Staatspräsidenten eingesetzt; es wird verlangt, daß er sofort den „Volksraad“ einberufe; es wird gegen alle von den englischen Behörden veröffentlichten Proklamationen feierlich protestirt und darauf gedrungen, daß die alte Regierung und die Unabhängigkeit der Republik so bald wie möglich wieder hergestellt werde. Fast einstimmig hat das Volk von Transvaal gegen die aufgezwungene Annexion protestirt, indem die wenigen dafür sich erklärenden Stimmen nicht der holländischen Nationalität, sondern Ausländern angehören. Es steht fest, daß volle neun Zehntel des Volkes von Transvaal die Gültigkeit der englischen Annexion nie anerkannt haben, da die Zahl der fast sämmtlich der englischen Nationalität angehörigen Theilnehmer an jener Volksversammlung in Pretoria, die sich für die Unterwerfung unter die Annexion erklärte, nur ein Zehntel der Personen betrug, welche sich in Wonderfontein und Doornkop zusammen gefunden hatten.

Die Frage ist nun: hat der einmüthige Widerstand der niederländischen Bevölkerung Aussicht, zu dem ersehnten Ziele ihrer Wiederbefreiung zu führen? Für Den, welcher die reellen Machtverhältnisse, die sich auf beiden Seiten gegenüberstehen, vergleichend gegen einander hält, liegt die Versuchung nahe, dem Boeraufstande kein günstiges Prognostikon zu stellen. Denn auf der einen Seite sehen wir eine gewaltige Weltmacht – auf der andern ein wenig zahlreiches einfaches Hirten- und Bauernvolk, welchem die Erfordernisse eines längeren Kriegszustandes zum größten Theil abgehen und das für alle seine Zufuhren auf das vom Feinde beherrschte Meer angewiesen ist. Und doch würde der Kampf, den diese furchtlosen afrikanischen Recken zu unternehmen gewillt sind, nicht ohne Aussicht auf Erfolg sein, wenn ihnen von ihren zahlreichen Stammesgenossen in der Cap-Colonie und im Oranje-Freistaate eine active Unterstützung zugewendet würde.

Die weiße Bevölkerung Südafrikas besteht nämlich zu 30 Procent aus Ansiedlern englischer Nationalität; die übrigen 70 Procent sind von niederdeutschem Stamme, inbegriffen die oberdeutschen und französisch-hugenottischen Volkselemente, die im Laufe der letzten beiden Jahrhunderte mit demselben sich vollständig verschmolzen haben. Ich möchte die heutige, dem niederdeutschen Stamme angehörige Bevölkerung Südafrikas nicht auf weniger als 245,000 Seelen veranschlagen, während die englische etwa 100,000 betragen dürfte. Die erstere hat sich in der Westhälfte der Cap-Colonie, im Oranje-Freistaate und in Transvaal concentrirt und ist dort absolut vorherrschend, während nur die Osthälfte der Cap-Colonie und die Colonie Natal ein Gleich- respective Uebergewicht der englischen Bevölkerung aufweisen.

Der größte Theil der kinderreichen holländischen Familienväter in der Cap-Colonie sendet fortdauernd einen Theil der Söhne hinaus nach den beiden Boer-Colonien: dem Oranje-Freistaat und Transvaal, damit sie sich dort eigene Plätze kaufen. Aus diesem Grunde hängt die gesammte südafrikanische Bevölkerung holländischer Rasse, trotz der Eintheilung des Landes in sechs getrennte politische Körper und unter zwei verschiedene Flaggen, doch unter einander so innig zusammen, wie eine große einträchtige Familie. Es würde daher nicht ohne Gefahr für die englische Regierung sein, wenn in dieser gesammten südafrikanischen Boer-Bevölkerung ein national-holländischer Patriotismus erwachte und wenn dieses altdeutsche Volk stämmiger Riesen durch die allgemeine Verbreitung des nationalen Revolutionsfunkens aus der verschlafenen Ruhe aufgepeitscht würde, in der die große Masse der südlichen Hälfte der Boer-Bevölkerung zur Zeit noch schlummert.

Die bisherigen Kriege Englands mit den Boers waren eigentlich nichts als Kinderspielerei, was schon die Ziffern der in die Gefechte gesandten Truppen bezeugen, die nie über einige Hunderte hinausgingen. Heute muß England ernstere Anstrengungen machen, wenn es seine Sache fördern will; denn die Kriegstüchtigkeit der Boers ist in den letzten Jahren gewaltig gewachsen. Sämmtliche Bewohner des Landes sind von Jugend auf im Gebrauche der Kugelbüchse geübt und verfehlen nicht leicht ihr Ziel. Ihre Kriege gegen die Eingeborenen haben sie stets zu Pferde geführt, indem sie nämlich zum Angriff auf die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 174. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_174.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)