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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


Dem Kinde thue es jedenfalls am besten, sobald als möglich wieder unter Dach und Fach zu kommen; bei der Großmutter werde es ausreichende Fürsorge finden.

Das alles klang so sonderbar. War die Reue doch noch über den so plötzlich aus seiner ganzen Laufbahn geworfenen Mann gekommen, und die fruchtlose Erkenntniß, daß er mit seinem Edelmuthe sich übereilt? Dann war freilich die natürliche Folge, daß er mit dem gebrachten Opfer genug gethan zu haben glaubte und sich kalt, ja mit innerlichem Widerwillen von Allem, was ihn in diese Lage gebracht und was ihn daran erinnerte, abwandte. Mochte nun jeder sehen wo er bleibe; er hatte sich losgekauft.

Sie belächelte im Stillen ihr Gespenstersehen, das half aber nur über Secunden hinweg; das Unbehagen stellte sich wieder ein, als ihr immer wieder dieselbe eisige, ablehnende Kälte, dieselbe beinahe verletzende Wortkargheit begegnete. So schlimm war es ja die ganzen Jahre ihrer Ehe her nicht gewesen. Zum wenigsten hatte sie das Bewußtsein, diesmal unschuldig daran zu sein. Sie gab es auf, dem Gatten mit ihren Fragen lästig zu fallen, und richtete ihre Worte nur noch an das Kind, das sich, wie in instinctivem Bestreben bemühte, die der Mama versagte Freundlichkeit durch seine rührenden Liebkosungen zu ersetzen.

So war unvermuthet die Station erreicht, von welcher der Weg über Land fortgesetzt werden mußte, und es kam die Trennung.

„Ich möchte aber mit Mama gehen,“ hatte die Kleine gebeten und darauf die barsche Antwort erhalten:

„Du bleibst bei mir!“

Auf seinen Armen hatte er dann das eingeschüchterte Kind, das sich nicht mehr an Mama zu klammern wagte, in den Rieflinger Schlitten getragen, wo er noch beschäftigt war, es einzuhüllen, als der Lohnkutscher drüben bereits seine Mähren durch Flüche und Peitschenhiebe in Bewegung setzte. Er schien sie ohne Abschied sich selbst überlassen zu wollen.

Und jetzt war noch ein letzter Zwischenfall gekommen, welcher der jungen Frau vollends einen so beklemmenden Eindruck hinterließ, daß sie sich von demselben nicht befreien konnte.

Witold's Stimme hatte dem davonfahrenden Kutscher nochmals Halt geboten; der sah sich verwundert um, was vergessen worden wäre. Es handelte sich aber nur um das kleine Mädchen, das Witold abermals herbeitrug.

Gretchen weinte und schlang voll Zärtlichkeit die Aermchen um Mamas Hals.

„Sie hat nur noch um einen Kuß gebeten. Ich hab's ihr nicht abzuschlagen vermocht. Armes Gretchen!“ erklärte Witold, und in seiner Miene malte sich nun doch auch eine vom Momente gerechtfertigte Bewegung.

Warum dieses tiefe Mitleid mit dem Kinde?

„Es ist ja nicht auf lange,“ tröstete die Baronin das Kind. „Behalte mich nur recht lieb!“ versuchte sie zu scherzen.

„O Mama! O Mama!“ Gretchen brachte über das stoßende Schluchzen nichts weiter heraus.

Witold aber sagte in einem ganz seltsam weichen Tone:

„Sie hat Dich sehr lieb gehabt.“

Und dann, als sie ihm diesmal die Hand reichte und freundlich wiederholte, daß die Trennung ja nicht lange dauern würde, da hatte er so fremdartig gelächelt und erst nach einigem Zaudern die Hand angenommen, ohne Druck, ohne Leben in der eigenen. Aus seiner Stimme klang eine Gefühlsmischung von Herbe und Ergriffenheit, als er, Gretchen auf dem Arme, zurücktretend ein kaum vernehmliches: „Wer weiß!“ entgegnete und ein noch leiseres „Lebe wohl!“

„Fahr zu!“ hatte es gleich darauf geheißen, und als sich Lisa um das eisige Verdeck herausbeugte und zurückblickte, da stand er noch auf derselbe Stelle im Schnee, und das Kind winkte unaufhörlich mit den vor Kälte rothen Händchen.

Dann bog die Straße um ein Haus, und Lisa hatte Zeit, ihren Gedanken nachzuhängen.

Die Schellen klingelten; der Schlitten glitt über die ebene Bahn oder ächzte in bedenklicher Neigung über angewehte Schneeberge; die Flocken taumelten zu den Seitenöffnungen herein und schmolzen auf dem Bärenfell; Lisa wußte von all dem nichts; sie hatte den Schleier über das Gesicht gezogen und lebte sich innerlich zurück.

War's eine Trennung, auf welche seine Worte gezielt?

Aengstlich pochte ihr das Herz in der Brust.

„Wer weiß?“ hatte er zu der Hoffnung baldigen Wiedersehens gesagt. War er in Bezug auf sich selbst im Zweifel, ob er sich entschließen würde, sie wiederzusehen? Aber, wenn er Lust hatte, sich von ihr zu trennen – warum war er dann jetzt eben so ergriffen gewesen? Oder – gab er etwa ihr selber eine Entscheidung in die Hand?

Und jetzt fiel es ihr auf's Herz, daß er sie für immer verlassen haben könnte, in der Meinung, ihren eigenen Wünschen damit zu begegnen.

Aber wie konnte er zu einer solchen Annahme gelangt sein? Aelteren Datums war dieselbe schwerlich, denn die plötzliche Wandelung in seinem Wesen, welche sich seit der letzten Nacht vollzogen, hing doch wohl mit jenem „Wer weiß?“ zusammen. Aber warum sprach er sich nicht aus? In Bitterkeit schnürte sich ihr das Herz zusammen. Warum machte er so gar keinen Versuch, zu hindern, was seiner Ansicht nach geschehe sollte? Und immer wieder blieb das größte Räthsel: wenn er Trennungswünsche auf ihrer Seite so zuversichtlich voraussetzte, mußte dies doch auf irgend einem entscheidenden Anlasse beruhen.

Wo lag er nur, dieser Anlaß?

Sie zerquälte sich den Kopf, ohne doch eine nähere Wahrscheinlichkeit aufzufinden, als jene unbedachten Worte, die sie in der gereizten Stimmung der letzten Ballnacht gesprochen. Als er verlangt, daß das Haus aufrecht stehe, aus dem er seine Frau geholt, da hatte sie ihm das Bitterböse gesagt: „Oder – sie kann wohl in dasselbe zurückkehren.“ Vielleicht lag der Anlaß zu seinem Benehmen doch soweit zurück; er wollte sie strafen für jene Worte. Immer wieder kehrte sie zu ihnen zurück, und je mehr sie dieselben durchdachte und die Stimmung, in welcher er sie damals schon angehört, desto mehr Gewicht glaubte sie ihnen beilegen zu müssen. „Ich habe darauf nichts zu erwidern – auch wenn Dein Zusatz einen Entschluß ausspräche,“ hatte er entgegnet. Waren jene Worte denn seither von ihr widerrufen worden? Nein. Und hatte er das nicht erwarten müssen? Ja, mehr noch: sie ihm abzubitten, war ihre Pflicht gewesen, sich des Leichtsinns und der unedlen Regung anzuklagen und seine Vergebung dafür zu suchen. Statt dessen hatte sie gemeint, Alles mit einem einzigen kärglichen „Ich danke Dir!“ abzuthun. Die große That des Edelmuths und der bewundernswerthesten Selbstentäußerung hatte sie hingenommen, wie allenfalls eine kleine Dienstleistung; sie kam sich selbst wie ein Geizhals vor, der mit dem Retter eines verlorenen Schatzes um den Finderlohn mäkelt und ihn zuletzt in falscher oder doch beschnittener Münze bezahlt.

Und er hatte glaube können, daß sie jetzt von ihm gehen werde?! Für wie undankbar, für wie niedrig mußte er sie halten! Aber er sollte es nicht. Die Worte, welche sie ihm sage wollte, flossen ihr in ungesuchter Fülle zu, und unwillkürlich öffneten sich ihre Lippen zum vernehmlichen Laut.

Aus dem Selbstgespräche riß sie ein heller Ruf freudiger Begrüßung. Sie hatte es gar nicht bemerkt, daß der Schlitten den Wald verlassen und an einzelnen Häusern vorüber durch eine Allee und einen Thorbogen gefahren war, in dessen Schlußstein unter einer alten Sandsteinkrone ein neues Marmorwappen prunkte. Nun hielt das Gespann im engen Schloßhof, und von der Treppe her kam ein schlankes hochgewachsenes Mädchen mit drolligen Sätzen durch den Schnee gesprungen und steckte das rosige Gesicht lachend unter das Lederdach, wobei sich das weißblaue, weitmaschige Wolltuch, das sie in der Eile übergeworfen, von dem blonden Köpfchen streifte und so die ganze anmuthige Form desselben, wie den reichen seidig glänzenden Haarschmuck enthüllte.

„Meine liebe Lora!“ begrüßte die Ankommende sie; doch die also Angeredete schlug überrascht die Hände zusammen, zeigte eine recht enttäuschte Miene und vergaß ganz ihren Bewillkommnungsspruch.

„Ja, wie denn?“ rief sie schmollend; „Du bist allein! Und Witold? Ach, nun habe ich mich schon so gefreut! Ist er Dir denn unterwegs aus dem durchlöcherten Kutschengehäuse verloren gegangen? Wann kommt er denn nach?“

„Er kommt gar nicht nach. Du mußt schon mit mir vorlieb nehmen.“

„Gar nicht?“ rief Lora voll Erstaunen, ohne den Nachsatz einer Erwägung zu würdigen. „Ja, er hat aber doch geschrieben,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 172. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_172.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)