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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


ebenfalls die Hand darnach ausstreckte, um das erste Zeichen und Andenken einer unbekannten Mutter zu besehen und zu begrüßen.

„Das ist wirklich ein Trauring,“ sagte der Vorsteher bedächtig. „Es stehen inwendig eine Jahrzahl und vier Anfangsbuchstaben. Aber das beweist nichts. Das fremde Weib kann wohl den Ring bei sich gehabt haben, wer aber weiß, ob er ihr gehört hat oder wo sie ihn aufgeklaubt hat. An der Hand hat sie ihn nicht gehabt, das weiß ich ganz gewiß; mein Vater hat mir gesagt, daß sie gar nichts an sich gehabt hat, kein einziges Kennzeichen.“

„Und doch beweist der Ring Alles,“ rief der Pechler wieder, während Nannei den Ring aus den Händen des Vorstehers riß und unter ausbrechenden Thränen an die Lippen drückte. Es war etwas in ihr, was ihr sagte, daß es keine Täuschung sei, daß sie wirklich ein Kleinod in Händen halte, das einmal die längst vermoderte, theure Mutterhand geschmückt hatte.

Wie in unbekannte Gegenden und Zeiten entrückt, vernahm sie kaum, wie der Pechler weiter erzählte, das Tuch sei dasjenige, welches die fremde Frau bei ihrer Ankunft getragen. Es sei das einzige Kleidungsstück, das von ihr übrig geblieben, welches seine selige Alte zu sich genommen und aufbewahrt hatte, nicht um es zu gebrauchen, sondern um es für das Kind aufzuheben als dessen einziges Erbe und Erinnerungszeichen. Im Laufe der Jahre, da man dem Mädchen seine Abkunft verschwiegen und es wie ein eigenes Kind behandelt hatte, und zumal nach dem Tod der Pechlerin war das Tuch völlig in Vergessenheit gerathen und hatte tief am Boden der Truhe gelegen, wo die wenigen besseren Habseligkeiten des ärmlichen Hausstandes verwahrt waren. Erst Nannei's Flucht und die Frage nach ihren Eltern hatten den Pechler wieder an dessen Vorhandensein erinnert. Heute nun, nach dem Begräbniß des Kogelhofer's, war es ihm wieder in den Sinn gekommen; er wollte der Nannei, wenn sie heimgekehrt sein werde, das Tuch zeigen und übergeben, und hatte deshalb den Morgen benutzt, die Truhe und deren vergessene Schätze zu durchstöbern. Er hatte das alte, doch noch wohl erhaltene Tuch zum ersten Male näher betrachtet und zu seiner nicht geringen Ueberraschung bemerkt, daß dasselbe bei der Berührung ein eigenthümliches knisterndes Geräusch hören ließ; er hatte näher nachgeforscht und bald entdeckt, daß das Geräusch von dem oberen Theile des Tuches herrührte, wo an der dickeren Stelle, die in der Regel an den Nacken zu liegen kam, ein rauschendes Stück Papier eingenäht zu sein schien. Rasch hatte er die Naht entfernt und mit wachsendem Staunen ein dünnes Päckchen wahrgenommen, in welches der Trauring und noch ein Papier, das wie ein Brief aussah, gewickelt war. „Und so wird's wohl sein,“ schloß er seine Erzählung, „daß, wie Du immer sagst, Vorsteher, die Maus da keinen Faden abbeißt und daß die Nannei kein lediges Kind ist, und was da auf dem Papier geschrieben steht, da wird vielleicht auch darin zu lesen sein, wer ihre Leute gewesen sind.“

„Das kann schon sein,“ sagte der Vorstand, indem er das Blatt nach allen Seiten betrachtete. „Das kann ich zwar nicht lesen, weil's nicht deutsch ist, aber da ist ein Siegel darauf, wie auf einem Zeugniß. – Da kommt der Herr Pfarrer aus der Kirch'; der wird es uns wohl lesen und ausdeutschen können.“

Der Pfarrer, der inzwischen in der Sacristei sein Kirchengewand abgelegt hatte, trat hinzu und hörte nicht ohne steigende Verwunderung, was sich zugetragen und welch' unerwartete Wendung in dem Schicksal eines bis zur Stunde unbedeutenden und unbeachteten Mädchens sich zu vollziehen schien.

„Das ist französisch,“ begann er, nachdem er das Papier näher geprüft hatte, „und in Wirklichkeit ein vom Pfarramt St. Sulpice in Algier in aller Form ausgestellter Trauschein über die richtig vollzogene Vermählung der Demoiselle Rose Blanchard mit Jules Baron de Steinerling auf Stein, Sergeantmajor im dritten kaiserlich französischen Regiment Chasseurs d'Afrique. – Seltsames Schicksal!“ rief der Geistliche. „Ich erinnere mich wohl, im Taufbuch den Eintrag meines Vorfahrs gelesen zu haben, daß er das neugeborne Töchterchen einer unbekannten Frau getauft, die nicht mehr zu sprechen vermocht, aber durch das Kreuzzeichen, das sie noch sterbend auf das Antlitz gezeichnet, sich als katholische Christin erwiesen habe. – Und sieh,“ begann er wieder, „da unten ist eine Bestätigung des Regimentscommandos beigefügt, daß Monsieur Jules de Steinerling in einem Gefecht mit den Arabern gefallen, und daß dessen Wittwe sich nach Deutschland begeben wolle, um die Verwandten ihres Mannes dort aufzusuchen.“

Feierliche Stille lag auf der versammelten Menge. In den leicht erregbaren Gemüthern war die erst so lustig spottende Stimmung allmählich in Verwunderung übergegangen; nun fehlte nicht viel, daß Allen die Augen übergingen, hatte doch sogar der Vorstand bei der Rede des Pfarrers langsam den Hut abgenommen, weil es ihm vorkam, als wenn er in der Kirche wäre.

Am wenigsten vermochte der Pechler Kaspar selbst seine Ergriffenheit zu verbergen und zu bemeistern. Er weinte und schluchzte durch einander. Er und seine gute Alte waren es ja doch gewesen, die das Mädchen erhalten und erzogen – ihre Liebe zu dem armen Waislein hatte sich nun glänzend gerechtfertigt, und auch sein Verlangen nach Vergeltung an allen Denen, die seinem Liebling weh gethan und ihm so rauh auf's Herz getreten, war gesättigt – gründlicher, als er in seinen kühnsten Träumen es zu erwarten vermocht hatte.

Jedes war so sehr mit sich selbst beschäftigt, daß die Hauptperson des ganzen Ereignisses einen Augenblick dabei völlig außer Acht gekommen war. Der Pfarrer war es, der zuerst ihre Abwesenheit bemerkte, der Pechler aber hinwieder war der Erste, der errieth, warum und wohin sie sich entfernt haben mochte. Wortlos, sich mit dem Aermel das Gesicht abtrocknend, trat er zur Thür des Kirchhofes ... unweit des Beinhauses, vor dem weißen Rosenstrauch, knieete Nannei auf dem Rasen.

Das Herz hatte sie getrieben, der armen unglücklichen Mutter zuerst in's Grab hinunter zu erzählen, daß nun aller Makel von ihrem Andenken genommen war, und ihr jetzt erst so recht die volle ewige Ruhe hinunterzuwünschen.

Der Pechler war an der Schwelle stehen geblieben. Viele Neugierige hatten nachgedrängt, aber Niemand störte die Betende.

Gab es doch viel Anziehenderes und Wichtigeres zu thun, nämlich in möglichster Schnelligkeit nach allen Seiten hin zu verbreiten, daß die Pechler-Nannei vom Kogelhof ihre Eltern gefunden habe, freilich alle Beide schon als Verstorbene; daß sie eine heimliche Baronin und der alte Baron Steinerling von Stein, den jedes Kind in der Umgegend kannte, ihr Großvater gewesen sei.

Es galt nun, überall die Bruchstücke alter Erinnerung zusammenzutragen und daraus ein Luftgebäude zusammenzufügen, wie das Alles habe kommen können, und sich über und über zu verwundern, wie die Geschichte so lange verborgen geblieben. Namentlich die Weiber konnten sich nicht genug erzählen, wie sie schon immer geglaubt hätten, in der Nannei müsse etwas Besonderes stecken, weil sie in vielen Dingen so eigen gewesen. Sie wußten sich nun wohl zu erinnern, wie sie oft ein so vornehmes Geschau gehabt, als wäre sie eine verwunschene Prinzessin und hätte sich nur als Bäuerin verkleidet. Man erinnerte sich nun auch auf einmal ganz genau, daß man sie immer besonders gern gehabt, daß man ihr nie etwas in den Weg gelegt und daß nur der Vorsteher es gewesen, der in seiner übertriebenen Geschäftigkeit sie gekränkt habe.

Auch die Gestalt ihres Vaters, des jungen Baron Steinerling, trat immer deutlicher aus dem Nebel der Vergangenheit hervor. Man besann sich auf sein Aussehen und daß er immer mit seinem Vater, der ihn hart und streng gehalten, auf gespanntem Fuß gelebt habe und auf einmal in die weite Welt gegangen und verschollen sei. Alles, der Vater voran, hatte ihn vergessen und längst für verstorben und verdorben gehalten.

Auch darüber kam man bald in's Reine, daß das Vergnügen des Alten über diese unerwartet wiedergefundene Enkelin kein besonders großes sein werde; waren doch seine Härte und sein Geiz es gewesen, die den Sohn vom Hause getrieben, war er doch seit dieser Zeit noch geiziger geworden und stand seit seiner Verheirathung mit der reiche Bräuers-Wittwe so stark unter deren Botmäßigkeit, daß sich mit Bestimmtheit voraussehen ließ, welcher Empfang der Bauernmagd zu Theil werden würde, wenn sie sich als Enkelin und Erbin bei ihm vorstellte. Je verwickelter aber die Zukunft gegenüber der entwickelten Vergangenheit sich gestalten mochte, desto anziehender war das ganze Ereigniß, das ohne Zweifel auf Menschenalter hinaus den hervorragenden Mittelpunkt der Dorfchronik zu bilden bestimmt schien.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 90. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_090.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)