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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


Kreyssig hat stets in der ersten Reihe dieser Streiter gestanden, hat bewiesen, daß der Geist nicht nur durch die alten Sprachen geschult, erzogen und zu höherem Studium tüchtig gemacht werde, sondern daß Mathematik, Naturwissenschaft und neuere Sprachen dies ebenfalls vermögen. Durch die That hat er es bewiesen, durch Erziehung von Schülern, die heute noch dankbar erkennen, daß sein Unterricht sie denken gelehrt, ihnen die Grundlage zur Erreichung der höchsten geistigen Ziele gegeben.

Als Lehrer mag Kreyssig nur von Wenigen übertroffen worden sein. Die Gesammtheit seiner Fähigkeiten, sein Wissen nicht nur, sondern auch seine Begeisterungsfähigkeit, seine geistige Schwungkraft, die Weite seines Blicks, sein klares, logisches Denken und die seltene Begabung, jedem Stoffe plastische Gestalt zu verleihen, ihn als ein Ganzes zu formen und so den Schülern faßlich darzubieten, rüsteten ihn dazu aus. Nichts von Pedanterie, kein Pochen auf Buchstabenwissen war ihm eigen. Die geistige Kraft der Schüler zu erwecken, ihre Köpfe zu klären, sie für das Lernen zu begeistern, aus Knaben selbstdenkende Männer zu machen, das verstand er meisterhaft.

Seinen älteren Schülern stand er nahe wie ein Freund. Wenn er während der Sommerzeit mit seiner Prima die bewaldeten Bergreviere tagelang durchstreifte, so ward für die verlorene Halbtagslection des Sonnabends reichlich Ersatz geboten durch geistvolle Unterhaltung, durch jenen werthvollen Unterricht, den er in seinen ersten Lebensjahren empfangen hatte: durch Erkennung der Natur, durch Darlegung ihrer Kräfte, ihrer Reize. Vierundzwanzig Jahre hindurch hat Kreyssig in Elbing die Jugend nicht nur unterrichtet, sondern auch erzogen, zu sich emporgehoben. Was aus dem verschiedenartigen Menschenmaterial zu entwickeln und menschlich herauszubilden war, das hat er geschaffen. Und wie hier, so hängen heute in Kassel, in Frankfurt am Main, wo er unter schwierigen Verhältnissen gearbeitet, die ehemaligen Schüler mit treuer Liebe an ihm, dem sie die innere Befreiung, die geistige Selbstständigkeit verdanken.

Groß ist die Schaar dieser ehemaligen Schüler, aber dieselben sind nicht die Einzigen, die von Kreyssig's seltener Lehrfähigkeit Nutzen gezogen haben. Wo er weilte, in Elbing, in Kassel, in Frankfurt am Main, hing an ihm eine Gemeinde von Freunden, die ihm mehr danken, als sie vielleicht selbst wissen. Alle die oben genannten Eigenschaften, besonders die lebhafte Phantasie, auch wenn dieselbe ihre Flüge manchmal schrankenlos ausdehnte und dadurch Manchen irre machte, der den Mann nicht genau kannte, wirkten mächtig auf die Umgebung. Verschlossenheit, Rückhalt, dünkelhafte Schulweisheit waren dem lebhaften Manne fremd. Er gab Alles, was er hatte, und gab es in einer Form, die fesseln und hinreißen mußte.

Im Jahre 1869 ging Kreyssig nach Kassel, 1871 nach Frankfurt am Main, der Altpreuße in die neuen Provinzen, um aus kleinen Anfängen, unter erschwerenden Umständen, mit einem Lehrerpersonal, das an das preußische Schulwesen, an die preußische Strammheit nicht gewöhnt sein konnte, höhere Lehranstalten zu begründen. Kreyssig war selbst keiner von den reglementsmäßig Strammen, Gedrillten unter den Schulmännern, aber er freute sich dieser Aufgabe um so mehr, je mehr sie seine Energie, seine Elasticität, seine staunenswerthe Arbeitskraft herausforderte, und er hat sie mit dem Aufgebote dieser seiner geistigen Kräfte glänzend gelöst. Schwerer wurde dies in Frankfurt, als in Kassel. In Frankfurt fand er ein System von Schulen, die einer Privatgesellschaft gehörten, eine Handels-, eine Gewerbeschule und eine noch in den Anfängen befindliche Bürgerschule, kein geschlossenes Lehrerpersonal, sondern zum Theil Kräfte, die nur für einzelne Stunden Vertrag mit der Anstalt geschlossen hatten, kurz Zustände, die man in Preußen nicht kannte. Freilich fand er zugleich den redlichen Willen der Bürgerschaft vor, aus ihrer Schule etwas Tüchtiges zu schaffen. Und das hat Kreyssig ihnen geleistet. Die Schulen sind vor wenigen Jahren an die Stadt übergegangen, und der neue Director hat sie verschmolzen, umgestaltet und zu einer Realschule erster Ordnung organisirt. Er war fast am Ziele. Nach langem Ringen und Kämpfen, nicht nur nach oben hin, sondern auch gegen einige Strömungen innerhalb der Bürgerschaft, wurde das Recht der Entlassung zur Universität bewilligt; nächste Ostern wird die Schule zum ersten Male von diesem Rechte Gebrauch machen; der Schöpfer und Organisator hat das nicht mehr erleben sollen.

Das eigentliche Werden und Wirken des Verstorbenen, die Entwickelung und Gestaltung seiner geistigen Individualität ruht in den vierundzwanzig Jahren seines Aufenthaltes in Elbing. Oft hat er dieses Fernsein von dem Mittelpunkte geistigen Lebens als ein hartes Schicksal beklagt, aber wohl nicht mit vollem Rechte. Ein so lebhaft sprudelnder Kopf, ein so heißblütiger Gelehrter, ein so scharf kritisirender Geist, ein so hinreißender, zündender Redner wäre dort sofort in die Bande einer Coterie, einer literarischen und politischen Clique gekommen, und solche Einschnürungen in bestimmte Programme, in schriftstellerische Verbände mit ausgesprochener Tendenz waren dem in absoluter geistiger Freiheit Erzogenen unerträglich. Er hätte es nicht aushalten können innerhalb derselben, und außerhalb, neben denselben stehend, noch weniger. In Elbing gehörte er ganz sich selbst und dem Kreise seiner zu ihm aufblickenden, von ihm lernenden Freunde an. Das erhielt ihn selbstständig und gab ihm doch die menschliche Umgebung, deren er bedurfte. Seine größten Arbeiten, die drei Bände „Shakespeare-Vorträge“, die „Abhandlungen über hervorragende Persönlichkeiten der französischen Literatur- und Culturgeschichte“, vielleicht sein allerbestes Buch, dann die „Vorträge über Faust“ sind hier entstanden und von dem damals noch ziemlich Unbekannten in die Welt geschickt worden. Man hat die Bücher beurtheilt, nicht den Mann, der sie geschrieben, und daß diese Urtheile nahezu einstimmig in hohem Maße anerkennend ausfielen, mag der Verfasser zum Theil seiner selbstständigen Stellung außerhalb der Coterie zu danken haben, andernfalls hätten die Einen ihn sicher in den Himmel gehoben, die Andern zerfleischt, und beides ging ihm arg an die Nerven.

Blieb Kreyssig in Elbing vor den angedeuteten Gefahren bewahrt, so strömten ihm dort andrerseits Anregungen in Fülle zu. Eine kleine Stadt gestattet es ihren hervorragenden Bürgern nicht, ihre Kräfte gemeinsamen Zwecken zu versagen. Wer viel hat, von dem wird da viel gefordert. Wenn Kreyssig mit bewundernswürdiger Vielseitigkeit und nie versagender Kraft fast gleichzeitig als Redner, Schriftsteller, Politiker und Lehrer hat erfolgreich thätig sein können, so hat er das nicht zum kleinsten Theil in den engen Verhältnissen Elbings gelernt. Hier mußte er immerwährend herhalten, und schöne werthvolle Früchte sind aus diesem Treiben und Drängen erwachsen. Wenn man die Jubiläen Schiller's und Shakespeare's, das Andenken Uhland's feierte, wenn Vorstellungen für die deutsche Flotte veranstaltet, Fahnen geweiht, zum Feste einziehende Sänger begrüßt, Sammlungen für Schleswig-Holstein veranstaltet wurden – eine zündende Rede Kreyssig's gab Allem Inhalt und Bedeutung; um sie gruppirte sich das ganze Programm; die Anderen hatten es leicht, wenn er die Menge hingerissen und in Begeisterung versetzt hatte. Die Gabe des Wortes besaß der Verstorbene wie selten Einer. Mochte er augenblicklich angeregt oder lange vorbereitet sein, immer stand der Gedanke dem Ausdruck, der Ausdruck dem Gedanken zur Verfügung, immer strahlte die Rede schöne Wärme, edle Begeisterung aus. Elegante Aeußerlichkeit, kühles Maßhalten durfte man nicht erwarten. Hingerissen, gefesselt, in die richtige Stimmung versetzt hat Kreyssig seine Zuhörer aber immer, über welchen Gegenstand er auch sprechen mochte. Seine Arbeiten über Shakespeare, die französische Literatur, Justus Möser, Faust sind aus solchen Vorträgen hervorgegangen.

Was in dieser Beziehung in Elbing begonnen, ward später in Kassel und Frankfurt fortgesetzt. Süd- und Westdeutschland erwies sich als der günstige Boden für solche Thätigkeit. Seinen Ruhm in den großen Kreisen des deutschen Volkes hat der Entschlafene vielleicht mehr noch diesen Vorträgen, als seinen schriftstellerischen Arbeiten zu danken. Freilich gehörten körperliche und geistige Kräfte, wie er sie besaß, dazu, um neben den aufreibenden Pflichten und Beschwerden des Amtes noch weite Reisen zu machen, öffentlich zu sprechen und in der nächsten Nacht heimzukehren. Eingeladen von Gesellschaften, Vereinen, größeren Verbindungen ist Kreyssig nach Hamburg, Köln, Elberfeld, nach Augsburg, Chemnitz, Leipzig, nach Kassel, Darmstadt, Mainz gegangen, um über literarhistorische, politische und culturgeschichtliche Stoffe zu sprechen. Er gehörte zu den beliebtesten Vortragsrednern Deutschlands, und das dankte er nicht nur seinem umfassenden Wissen, der Macht seines Wortes, sondern ebenso der geistigen Frische, der hinreißenden Begeisterung, der gedanklichen Klarheit, die ihn selbst dem bescheidenen Fassungsvermögen verständlich machte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 78. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_078.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)