Seite:Die Gartenlaube (1880) 051.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


in der ersten Entwickelung begriffen, wird selbstverständlich auch viel schwieriger sein, als in den Städten, da sich nicht in jeder Ortschaft die erforderliche Anzahl zuverlässiger und zur Leitung geeigneter Persönlichkeiten finden mag. Der Bedarf an Kartoffeln dürfte inzwischen in den meisten Ortschaften beschafft sein. Das Quantum ist durch Vertrauensmänner festgestellt worden und wird den einzelnen Gemeinden gegen solidarische Schuldverbindlichkeit der Gemeindemitglieder mit zwei Mark fünfzig Pfennig bis drei Mark pro Centner geliefert.

Was nun die traurigste Hauptsache des ganzen Unglücks, den Ausbruch des Typhus betrifft, so kann leider die weithin erregte Furcht vor diesem grauenhaften Schreckbilde nicht als eine unbegründete bezeichnet werden. Nach den Mittheilungen des oben bereits genannten Dr. Heer in Ratibor vom 23. December war der Typhus bis zu diesem Tage nicht blos in dem Dorfe Solarnia, sondern auch in Ratibor selbst und in den Dörfern Olsau, Bluschczau, Plania, Marquartowitz, Kamin, Brzeznitz, Raschütz, Bobrownik, Woinowitz und Nendza constatirt. Der Arzt bemerkt hierbei: „Wenngleich in mehreren Orten erst einzelne Fälle aufgetreten sind, so muß doch die Gleichzeitigkeit ihrer Erscheinung als der Ausdruck einer allgemeinen Ursache erachtet werden, und über die Natur dieser Ursache besteht kein Zweifel mehr.“ Die furchtbare Ansteckungsfähigkeit und verheerende Gewalt dieser schrecklichen Krankheit ist zu bekannt, als daß davon noch besonders gesprochen werden müßte. Einigermaßen beruhigend können in dieser Hinsicht die Maßnahmen wirken, welche von den Behörden unter persönlicher Leitung des Oberpräsidenten an Ort und Stelle angeordnet und ausgeführt worden sind; dieselben lassen zuversichtlich hoffen, daß die Krankheit auf ihren Herd beschränkt und ein epidemisches Ueberhandnehmen derselben verhindert werden kann. Dringend nöthig in dieser Beziehung ist die strengste Controlle, namentlich der ländlichen Gemeindebehörden, da es vorgekommen ist, daß in einer Ortschaft des Kreises Gleiwitz mehrere Wochen hindurch ein ansteckende Krankheit herrschte, ohne daß auch nur der Kreisverwaltungs- oder der Kreismedicinalbehörde irgend eine Anzeige davon erstattet wurde. Hier liegt eine ganz ungeheuere Verantwortung, denn durch die so reich gespendete Hülfe haben die außerhalb Oberschlesiens wohnenden Bevölkerungen sich ein doppeltes Recht erworben, gegen die Einschleppung der Hungerpest aus dem bedrängten Lande sich in durchgreifendster Weise geschützt zu sehen.

Dieses gleichgültige Verschweigen der Gefahr ist für den Oberschlesier, wie er jetzt ist, ebenso charakteristisch, wie die häßlichen Züge, welcher ich zu Eingang dieses Berichtes Erwähnung that. Aus allem, was ich als Bewohner der Provinz längst weiß und jetzt auf's Neue wiederum gesehen und gehört habe, geht eben mit Sicherheit hervor, daß man es in Oberschlesien mit einem doppelt bedrohlichen und verhängnißschweren Nothstande zu thun hat, mit einem leiblichen und einem geistig-sittlichen. Der erstere wird durch die starke Mithülfe des opferwilligen Erbarmens hoffentlich bald abgewendet werden, der geistige und sittliche Nothstand aber wird den Hunger sammt seinem schauerlichen Gefolge auch dieses Mal überleben, und es wird sich aus dieser Seite des Unglücks, falls ihre allmähliche Besiegung nicht gelingt, das gegenwärtige Elend unter geeigneten Umständen immer von Neuem erzeugen müssen.




Dessau und sein Herzog Franz.


Von dem „alten Dessauer“ hat wohl Jeder einmal gehört, und weltberühmt seit anderthalb Jahrhunderten ist auch der aus den Kriegszügen dieses Soldatenfürsten herrührende „Dessauer Marsch“. Von Dessau selber aber wissen die meisten Leser wohl kaum etwas mehr, als daß es eine der kleineren deutschen Fürstenresidenzen ist, die am linken Ufer der Mulde, unweit ihres Einflusses in die Elbe, gelegene Hauptstadt des seit 1863 wiederum vereinigten Herzogthums Anhalt. Uebertreibung würde es sein, wenn man den Ort als einen verschollenen bezeichnen wollte. Aber von einer liebreichen Verwaltungsweisheit, welche hier in den vormärzlichen Tagen unbeschränktester Territorialherrlichkeit ihr Regiment entfaltete, wäre ihm beinahe dieses Geschick bereitet worden. Viele Jahre hindurch hat diese eigenthümliche Regierungskunst mit ängstlicher Fürsorglichkeit über der politischen und industriellen Unschuld des Ländchens und seiner Hauptstadt gewacht, ihr patriarchalisches Stillleben namentlich gegen das Eindringen eines unruhigen Fremdenverkehrs so emsig zu schützen gesucht, daß die Folgen dieser langen Absperrung noch heute nicht überwunden sind. Dessau wird noch immer wenig von Touristen besucht und auch jenseits der anhaltischen Grenzen nur selten in der Oeffentlichkeit genannt.

Das hindert es jedoch nicht, eine der schmucksten und ansehnlichsten deutschen Städte zu sein und den neu hereinkommenden Fremden meilenweit in ihrem Umkreise durch eine Landschaftsscenerie zu überraschen, die sofort seinen Blick fesselt und sein Herz gewinnt. Eine solche Fülle heiterster Anmuth, lieblichster und frischester, namentlich zu einem reichen Ganzen harmonisch vereinigter Naturbilder hatte er sicher in einer der ebenen Gegenden unseres Vaterlandes nicht erwartet, und anziehend wie die Betrachtung dieser grünen Wald-, Garten- und Auenherrlichkeit werden dem Gebildeten auch die Mittheilungen über ihre Entstehungsgeschichte sein. Erinnert sie doch lebhaft und in sprechenden Zeichen an jene merkwürdige Epoche des vorigen Jahrhunderts, wo auch deutsche Fürsten mächtig von dem durch alle Lande wehenden Humanitätsgeiste der Zeit ergriffen wurden, sodaß sie es sich zur Lebensaufgabe machten, die Verschönerer ihrer Länder, die Retter und Wohlthäter ihrer zurückgebliebenen Völker durch Förderung von Bildung und Aufklärung, von gutem Geschmack und edler und humaner Sitte zu werden.

Wer einmal durch den berühmten Weimarischen Park gewandert ist, der wird an einem schattig-lauschigen Punkte dieser classischen Stätte ein hohes, durch die Jahre schon verwittertes Steingefüge bemerkt haben mit der Inschrift: „Francisco Dessaviae Principi“ (vergl. die Abbildung Jahrg. 1878 S. 453 der „Gartenlaube“). Dieses eigenthümlich gestaltete Denkmal ist hier vom großsinnigen Karl August einem älteren Zeit- und Gesinnungsgenossen, der ihm Freund und in vieler Hinsicht Vorbild war, dem Herzog Franz von Dessau, errichtet worden. Da keine derartige Huldigung anderer Persönlichkeiten im Parke sich findet, ist jene einzige unbedingt ein Beweis höchster Verehrung seitens des Weimarischen Musenhofes, mag dieselbe nun der Genialität des großen Baumeisters, Parkschöpfers und Landschaftsgärtners, dem Schüler und Freunde Winckelmann’s, oder dem erleuchteten Regenten, dem Anhänger Rousseau’s und Pestalozzi’s, dem eifrigen Förderer einer verbesserten Jugend- und Volkserziehung von großen Gesichtspunkten aus, gegolten haben. Nach allen diesen Seiten hin hatte der Fürst Franz mit den eingreifendsten Erfolgen gewirkt, und nur äußere Umstände tragen die Schuld, daß man das weit über den engen Localrahmen hinausreichende Bild seiner Persönlichkeit noch nicht in würdiger Biographie gezeichnet, ihm in der Culturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts noch nicht den verdienten Platz angewiesen hat. Das heutige Dessau ist zum großen Theil sein Werk, und wir werden eingehender von ihm sprechen müssen, indem wir Veranlassung nehmen, etwas über die Stadt und ihre Geschichte mitzutheilen.

Die Geschichte kleiner monarchischer Staaten und besonders ihrer Residenzstädte war und ist auch heute noch viel mehr mit der Geschichte ihrer Fürstenhäuser verwachsen, und ihr Charakter, ihr Aufschwung oder Rückgang bleibt in viel stärkerem Maße von dem Charakter, der Bildung und Befähigung der jeweiligen Regenten abhängig, als dies in umfangreicheren Ländern der Fall ist. Aus dieser Lage der Dinge ergeben sich im Laufe der Zeit sehr viele Förderungen und Vorzüge, aber auch mancherlei Nachtheile, wohin der Mangel eines unabhängigen öffentlichen Geistes und eine gewisse Unselbstständigkeit des bürgerlichen Lebens zu rechnen ist. Alle diese kleinen Residenzen zeigen daher die wohlthuende Eigenschaft einer von oben her geordneten traditionellen Zierlichkeit und Nettigkeit, einer gebildeten Gesellschaft und gewissen Eleganz der Einrichtungen und Sitten. Zu einer wirklichen

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 51. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_051.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)