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verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


dadurch um die erwartete Auszeichnung gekommen, war es, was sie vernichtete: die Worte thaten es, mit denen es geschehen war.

Hatte sie denn recht gehört?

Sie, die ihr Leben lang sich keines Unrechts bewußt gewesen; sie, die mit aller Mühe, mit allem Fleiße getrachtet, als ein ehrenhaftes, wenn auch armes Mädchen dazustehen; sie, die sich geschmeichelt hatte, daß Niemand in der Gemeinde von ihr ein unrechtes Wort zu sagen, sie mit einem schiefen Blicke anzusehen wagen durfte – sie sollte eine Person sein, die sich nicht recht öffentlich zeigen konnte, oder die, wenn sie es that, dem Ort und Hause, wo es geschah, zur Schande gereichte?

„Vater!“ rief sie, sich gewaltsam aufraffend und nach Athem ringend. „Vater – was hat er gesagt? Geschimpft hat er mich – ein lediges Kind hat er mich geheißen – und Du – Du stehst daneben, Vater, und leidest das? Du hilfst mir nicht? Red’ – bist Du denn nit, für was ich Dich meiner Lebtag gehalten hab’? Bist Du denn nit mein Vater?“

Sie ergriff und schüttelte den Alten beim Arm, um ihn aus seiner anscheinenden Betäubung zu reißen und zu einem Lebenszeichen zu veranlassen. Er blieb stumm, wandte sich von ihr ab und fuhr sich mit dem Rücken der Hand über die Augen, um sich die Thränen abzuwischen, die als einzige, nur zu verständliche Antwort ihm über die hageren Wangen rollten.

Mit einem Aufschrei des Schreckens ließ sie ihn los und brach auf einen Sitz zusammen; wie bewußtlos starrte sie vor sich hin, erst die Hände ringend, dann im Schooße in einander faltend, indeß ihre Brust wie von Krämpfen geschüttelt flog und vergebens nach dem lösenden Labsal der Thränen rang. – So war es denn wahr! Sie war vaterlos – war eines der unglücklichen Geschöpfe, die den eigenen Angehörigen ein Vorwurf, allen Andern eine Last, ein Gegenstand der Geringschätzung heranwachsen, wie ein auf den Weg verstreutes Samenkorn, das unter dem achtlosen Fuße des Wanderers zertreten wird oder verkümmert! Die wie verbotene Auswüchse am regelmäßigen Stamme nur mit Gleichgültigkeit betrachtet oder mit Widerwillen geduldet werden. Mit einem Male war der Schleier glücklicher Täuschung, der sie bis dahin liebevoll umgeben und eingehüllt hatte, zerrissen: blendend hell, mit dem grellen Feuerschein eines Brandes, der die Hütte, die ihr so lange eine Heimath gewesen, in Schutt und Trümmer verwandelt, lag ihr ganzes bisheriges Leben vor ihr. Manches, was sie nicht begriffen und wovon sie sich verletzt gefühlt hatte, ohne recht zu wissen, warum, lag nun auf einmal in schrecklicher Deutlichkeit vor ihr – manches hingeworfene Wort, manches kleine Ereigniß aus der Zeit der Schule und selbst der Kinderspiele, das sie gutmüthig auf Rechnung ihrer Armuth geschrieben, war jetzt zu furchtbarer Deutlichkeit erklärt – alle Fäden der Zusammengehörigkeit mit Familie, Haus, Gemeinde waren wie eben so viele Lebensadern abgerissen, und wie die Vergangenheit, lag auch die oft in der Stille so schön geträumte Zukunft verwüstet – einem Bergthale gleich, dessen Wiesen, Matten und Gärten eine plötzliche Ueberschwemmung unter Geröll, Schutt und Gestein begraben hat.

Deshalb also war auch Lenz so keck gegen sie gewesen! Deshalb hatte auch er, an dessen Erscheinung und Wesen ihr Auge und Herz mit geheimem, tiefverborgenem Wohlgefallen gehangen, es gewagt, so gegen sie aufzutreten und sie wie eine ehrlose Person zu behandeln!

Dieser, der bitterste Gedanke machte die Erstarrung ihres Schmerzes brechen – ihre Thränen flossen, und die Hände vor’s Gesicht schlagend, stürzte sie laut aufschluchzend aus der Tenne in’s Haus. Draußen aber übertönte den Klagelaut das Hochrufen des Volks und das Rollen der Räder, welche den Nannei’s Blumenstrauß in der Hand haltenden König von dannen trugen.

(Fortsetzung folgt.)




Die Spielwuth in San Francisco.
Ein Beitrag zur Geschichte des modernen Actienschwindels.
Von Theodor Kirchhoff.
(Schluß.)

Die letzte Hochfluth einer wilden Speculation in Minenactien auf der Stockbörse in San Francisco begann im Juni 1878. In vier Monaten stiegen siebenundzwanzig Hauptminen am Comstock-Gang im Marktwerth von 29 auf 125 Millionen Dollars; drei Monate später waren dieselben Actien auf mehr als ein Dritttheil ihres höchsten Preises wieder herabgesunken. Schon seit geraumer Zeit hieß es, daß wohl der Boden, nämlich die Metallschätze, aus dem Comstock herausgefallen seien. Man zweifelte daran, daß in einer Tiefe von über 2000 Fuß daselbst noch reiche Erzkörper gefunden werden könnten. Allerdings bezahlten die beiden Bonanzaminen Consolidated Virginia und California jede noch immer ihren Actionären die üblichen Dividenden von 1,080,000 Dollars per Monat, aber der Marktpreis dieser Minen, deren Erschöpfung bei einem Raubbausystem, wie es am Comstock stattfand, unmöglich lange auf sich warten lassen konnte, war bereits von 700 Dollars auf 20 Dollars per Share gefallen (von denen jedoch fünf auf eine frühere Actie gingen), und von Erzfunden in anderen Minen ward nichts gehört. Der Börsenwerth sämmtlicher Comstockminen, welcher im Jahre 1874, vor der Entdeckung der beiden Riesenbonanzas, nur etwa 5 Millionen Dollars betrug und der sich zur Zeit der „großen Entdeckung“ auf 271 Millionen Dollars gehoben hatte – mehr als das gesammte Grund- und Personaleigenthum der Stadt San Francisco beträgt! – war im Mai 1877 auf 11 Millionen gesunken und stand im vergangenen Sommer, wie schon bemerkt wurde, trotz aller Manipulationen, ihn zu heben, erst wieder auf etwa 29 Millionen Dollars. Anstatt Dividenden zu erhalten, mußten die unglücklichen Aktionäre fast fortwährend mit „Assessments“ herausrücken. Wahrhaftig, es war an der Zeit, daß wieder einmal eine respectable Entdeckung am Comstock-Gang gemacht wurde, wenn den biederen Bewohnern der großen Goldstadt nicht alle Lust zum Speculiren in Stocks verleidet werden sollte.

Endlich brach im Sommer 1878 eine neue Glücks-Aera an. Man hatte in der Sierra Nevada-Mine reiches Erz gefunden – 2200 Fuß tief unter der Erde. Sierra Nevada, welches jahrelang nur „irländische Dividenden“ bezahlt hatte und zu 1¼ Dollars per Share betteln ging, machte sofort einen kühnen Sprung auf 15, dann auf 25, dann auf 30 Dollars per Share. Seine Nachbarmine Union Consolidated blieb nur eine Pferdelänge dahinter zurück. In allen Comstocks ging die Scala der Actienpreise sofort raketenartig in die Höhe, sodaß die Makler Tag und Nacht im Comptoir und auf der Börse arbeiten mußten, um den an sie gestellten Forderungen des nach Comstockactien förmlich hungrigen Publicums nur einigermaßen gerecht werden zu können.

Die Nachrichten von Erzfunden in der Sierra Nevada-Mine ließen nichts zu wünschen übrig. Man führe einen Schacht an der Seite der Bonanza hinunter, hieß es; später werde man zusehen, wie breit sie sei – und dann solle man sein blaues Wunder erleben! Sierra Nevada stieg auf 50, auf 100, auf 150 Dollars. Union Consolidated folgte auf 100 Dollars. In San Francisco war eine Aufregung, als hätte der Engel Gabriel den lieben[WS 1] Herrgott in Person zu Besuch angemeldet. Immer höher stiegen die lustigen Zwillingsbrüder. Sierra Nevada erreichte 300, Union Consolidated 200 Dollars per Share.

Man erzählte sich, daß die Bonanzafürsten Flood und O’Brien 5000 Shares Union zu 200 Dollars per Share – eine runde Million! – für Schatzscheine der Vereinigten Staaten auf einmal ausgetauscht hätten, um jene Mine controlliren zu können. Vorläufig hatte man aber noch nicht eine Schaufel voll Erz aus der Union Consolidated hervor geholt und in der Sierra Nevada nur Anzeichen von einer Bonanza gefunden. Der Marktwerth der Sierra Nevada-Mine war mittlerweile von 200,000 Dollars auf 27 Millionen Dollars, der von der Union Consolidated Mine von 350,000 Dollars auf 19½ Millionen Dollars gestiegen, während die anderen Comstock-Minen sich alle im Preise verdoppelt bis verzehnfacht hatten.

Anmerkungen (Wikisource)

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verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1880, Seite 026. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_026.jpg&oldid=- (Version vom 13.1.2021)