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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)


und der Mutter Herz schlug von da an nur für ihn. O, er wußte es wohl, und heute stand es wieder lebhaft vor seiner Seele: sie liebte ihn über Alles – sie liebte ihn wohl nur zu sehr. Und wie die Mutter, so hatten ihn Alle lieb, die ihn sahen, die auf der Lebensbahn eine Weile neben ihm hingingen. Und nun, nachdem so lange Jahre vergangen, nun in der festlichen Stimmung des Weihnachtsabends sah er im Geiste sein eigenes Bild aus jenen Tagen sonnigen Jugendglückes vor sich: die schlanke, elastische Gestalt, an der jedes Glied, jede Bewegung von selbstgewisser Kraft und thatenfreudiger Männlichkeit sprach, die helle und doch so kräftige Stimme, die ihm jedes Herz gewann, die hohe Stirn, die ein Wald von dunklen Locken umrahmte, und auf dieser Stirn ein Zug – „ein Zug stolzen Trotzes“, sagte die Welt. Aber es war mehr gewesen als Trotz, was auf dieser Stirn stand und das Schicksal seines Lebens geworden – heute verhehlte er es sich nicht mehr: ein brennender Durst war es gewesen, groß zu sein in der Welt und ihre Schätze zu gewinnen – Genußsucht, Eitelkeit, Ehrgeiz.

Das Leben lag vor ihm, so schön geschmückt; er vor Allen war geladen, an der reichbesetzten Tafel Platz zu nehmen, und mit rücksichtsloser Begehrlichkeit durchbrach er die Schranken der gegebenen Verhältnisse.

So hatte er in seiner Heimath eine zeitlang hingelebt – neben der Mutter, die ihn mit Entzücken geistig und körperlich wachsen und reifen sah. Mit ahnender Mutterliebe blickte sie in die Zukunft und schloß die Augen, geblendet von den glänzenden Bildern, die sich ihr im Leben des geliebten Sohnes enthüllten. Konnte sie ihm versagen, was er auch immer verlangt? Unmöglich! Und was er verlangte, das war viel, unendlich viel – Alles.

Und dann kam ein Tag – er zog hinaus in die Welt, die ihn so unwiderstehlich lockte, und ließ die Mutter zurück, hülflos und verlassen, arm und gebeugt von der Jahre Last.

Ihm aber blieb jenseits des Oceans das Glück getreu. Sein Blick hing unverwandt an den schönen Augen jener Göttin, die nicht nach Recht und Gerechtigkeit, nur nach Gunst und Laune ihre Gaben spendet, und die Erinnerung an die Heimath, an die Mutter starb allmählich. –

Seine persönlichen Vorzüge und Talente bahnten ihm überall den Weg, und schnell gelang es ihm, eine glänzende Stellung zu erringen. Genießen, in vollen Zügen genießen, das hieß bei ihm leben, und im grenzenlosen Leichtsinn verpflichtete er sich auf lange Jahre hinaus, nicht nach Europa zurückzukehren. Wohl zog zuweilen durch seine Träume die Erinnerung an die Heimath und rührte sein Herz durch die Erscheinung seiner Mutter, deren Antlitz ihm so bleich und traurig entgegenblickte. Wenn er aber erwachte aus den Träumen, dann lachte ihm die ewig junge, schöne Göttin alle düsteren Gedanken hinweg, und sein Gewissen beruhigte er mit dem festen Vorsatz, „einst“ Alles wieder gut zu machen.

Die Jahre schwanden, und längst war er zum Manne gereift. Aber wie das Leben uns auch packen und werfen, umschmeicheln und liebkosen mag, ganz kann sie doch niemals sterben, die Erinnerung an das süße Ehedem der Kindheit.

Als sich der erste Silberstreif in seinen dunklen Locken zeigte, ergriff ihn ein tiefes Weh; ein ungestümes Verlangen nach Glück trieb ihn hinaus in die Welt; ein stilles, heimliches Sehnen nach einem unsagbaren Etwas hieß ihn – heimwärts ziehn.

Da war er wieder in der Heimath, reuig und liebend die Mutter suchend, die ihn so unendlich geliebt, aber seiner Reue war der Friede versagt. Die alte Frau hatte lange, lange auf ihn gewartet – umsonst! Heute hatte er an der Mutter Grab gestanden.

Und wie er nun durch die menschenbelebten Gassen schreitet, da legt sich das bittere Gefühl der Schuld ihm schwer auf’s Herz. Fort aus diesen vom festlichen Licht der Weihnacht bestrahlten Märkten und Plätzen! Ihm blüht keine Freude.

Er will entfliehen – wohin, wohin? Wer wandelt da plötzlich an seiner Seite? Wer nickt ihm so mild lächelnd zu? Seltsam, da ist sie wieder, die alte Frau. Schweigend gehen sie neben einander hinaus in einsame abgelegene Gassen. Er ist wie in ihrem Bann.

„Wo geht Ihr hin?“ fragt er endlich.

„Nach Hause,“ antwortet sie.

„Wen habt Ihr dort?“

„Niemand!“

„Und wen erwartet Ihr?“

„Mein einziges Kind, meinen Sohn.“

„Und wenn er nicht kommt?“

„Er kommt!“ antwortet sie, und ein überirdischer Glanz blitzt in ihren Augen.

Sie traten in ein altes Haus, und der vornehme Mann, in den seinen Pelz gehüllt, folgt der Alten die schmale Stiege hinauf. Er fühlt: er muß. Sie treten ein in ein kleines Gemach; die Alte zündet ein Licht an. Er blickt um sich wie im Traume; auf dem Tisch steht ein Tannenbaum und darunter liegt die Bibel. Bald brennen die Kerzen; die Beiden sitzen sich gegenüber.

„Wie viele, viele Jahre warte ich nun schon auf ihn; heute, am heiligen Christabend, muß er doch endlich kommen, und ich darf nicht sterben, ehe ich ihn gesegnet.“

Wie schwer die Worte auf sein Herz fielen! „Und warum ging er von Euch?“ fragte er.

„Er war so schön und so klug; er brauchte Geld, viel Geld, und ich hatte keins mehr. Da zog er hinaus in die Welt. Gold wollte er erringen; auch für mich wollte er es; auch mich wollte er reich und glücklich sehen. Und als er fort war, da wurde es Nacht um mich her. – Das Elend zog bei mir ein, und die Krankheit warf mich auf’s Lager, meine Liebe aber war stärker als sie – ich muß leben, bis diese Hand auf seinem Haupte geruht.“

Er stöhnte laut auf.

„Mutter, denke, ich bin Dein Sohn! Siehe hier ist Gold, viel Gold; Alles ist Dein; segne mich!“ – Da lag es nun auf dem kleinen Tisch, das verführerische Metall, nach dem die Menschen so rastlos jagen und das noch keinen beglückt. Wie das funkelte und blitzte! Wie es lachte, das schöne Gold – umsonst; hier hat es seine Macht verloren; es ist todt. Lächelnd schiebt die alte Frau es zurück; sie winkt ihm: „Komm’, mein Sohn!“

Und der starke Mann kniet und beugt das Haupt tief herab. Ihre welke Hand streicht leise über sein volles Haar. Ein Zittern durchfliegt seinen Körper.

„Meine Liebe und mein Segen folgen Dir – gehe hin in Frieden!“

Die alte Frau lehnt sich in den Stuhl zurück; er erhebt sich. Seine Augen werden feucht, und ein heißer Thränenstrom wäscht alle Schuld von seiner Seele. Er fühlt sich frei werden, und ein nie gekanntes himmlisches Gefühl schwellt seine Brust. Das Glück konnte ihm die Welt, die ihm so viel, die ihm Alles gab, doch nicht geben; aus der Hand der Bettlerin sollte er es empfangen, das höchste Glück, die Ruhe seines Herzens, den Frieden seiner Seele.

Die Lichter sind verlöscht; der Mond und die Sterne scheinen in das Gemach; ihr bleiches Licht zittert in den dunklen Tannenzweigen. Von ferne tönt Gesang: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden!“

Wie Himmelsklänge dringt das Lied in seine Seele.

Er tritt an das kleine Fenster, und sein Blick verliert sich in das Sternenmeer. Seine Seele hebt ihre Flügel und strebt dem Unendlichen entgegen. – Er blickt um sich; stolz hebt er das Haupt; er breitet die Arme aus; er ist so unaussprechlich reich und glücklich.

Ist denn Niemand da, mit dem er sein Glück theilen kann?

„Mutter!“ ruft er leise.

Schläft sie?

„Mutter,“ ruft er noch einmal und erfaßt ihre Hand. Sie ist kalt – die alte Frau ist todt. Da wird es klar in seiner Seele: bis über das Grab folgte ihm die Liebe seiner Mutter; in der Gestalt der alten Frau war sie ihm erschienen, um ihm das zu geben, was er überall umsonst gesucht. – – –

Und draußen auf dem Friedhof, da ruhen sie neben einander, die beiden Mütter; eine Linde streut ihre Blüthen auf die Hügel; in ihren Zweigen singt eine Nachtigall das alte, ewig junge Lied von Glück und Liebe. Und der ernste Mann, der an des Baumes Stamme lehnt, versteht das Lied.

Bald erscheint er nicht mehr allein; sie begleitet ihn – sein junges Weib. Am Weihnachtsabend aber da kommt er allein; in Schnee und Eis gehüllt ist die Natur, und der kalte Nord tobt in den Aesten der alten Linde. Das Herz des ernsten Mannes, der gedankenvoll an den Gräbern steht, schlägt warm, und voll heißen Dankes gedenkt er jener Stunde, da er den Frieden, da er sich selbst gefunden.

Ad. Bl.




Blätter und Blüthen.


Unsere Illustrationen. Vor unseren beiden Bildern können wir fragen: Herz, was begehrst Du? Die einfache und doch so erhebende und rührende Feier einer Christmette – oder das bunte Treiben auf dem Weihnachtsmarkte einer belebten Stadt? Jenes steht uns am Rhein zu Gebote und dieses in Deutschlands Mitte; jenes führt uns vor die St. Werner-Capelle in Oberwesel, dieses auf den Augustus-Platz der deutschen Rechtshauptstadt Leipzig.[WS 1]

Eine Christmette! Wem ihre Lichter in die Kindesaugen geleuchtet, der vergißt ihre heiligen Schauer nie und gönnt sie gern seinem eigenen Kinde. So früh am Morgen aus den Betten; es ist noch ganz Nacht. In warme Kleider gehüllt, in der Hand ein Stück Kerze, geht nun die Wanderung mit Eltern und Geschwistern in die Kirche. Wie zappeln die vielen kleinen Beine durch den Schnee! In der Kirche – ah, die vielen Lichter! So ist oder war es wenigstens in des Verfassers Heimath: Jeder Kirchengänger, jung und alt, bringt sein Licht mit und steckt’s vor sich hin auf seinen Platz. Ueber diese vielen Lichter sich zu freuen, das ist der Kinder Gottesdienst während der Predigt, aber schier athemlos lauschen sie den Tönen der Orgel und dem Chorgesang, und das stimmt sie dann ganz feierlich, sodaß die Gesichtchen gar rührend ernsthaft darein schauen. Und ist die Mette aus, dann geht’s in schönster Gemüthsverfassung heim zum leuchtenden Weihnachtsbaum. Auf unserer Abbildung der St. Werner-Capelle hat die Christmette bereits begonnen. Rechts ragen die Giebel von Oberwesel und hoch darüber auf dem Berge die Ruinen der Schönburg empor. Und wenn in der Capelle die Gesänge schweigen, hören wir’s, wie drunten der Rhein uns feierlich entgegenrauscht.

Wir eilen aus dieser Einsamkeit, wo das Mittelalter uns noch mit seinen Mauern umfängt, in die frische, freie Neuzeit der lebenvollen Stadt. Aber nicht den Leipziger Christmarkt sehen wir vor uns, sondern den Augustus-Platz als Christbaumwald. Der größere, vor der Universität bis zum Museum sich ausbreitende Theil des Platzes ist wirklich mit einem Wäldchen von Fichten- und Tannenstämmen bedeckt und von Fußwegen durchschnitten, auf welchen uns der Weihnachtsduft anweht. Von hier aus wird das Hauptprachtstück jeder Christbescheerung in alle Häuser der festfröhlichen Stadt getragen. Der ortskundige Leser erkennt leicht im Hintergrunde unseres Bildes zur Linken das neue Theater und zur Rechten das Gebäude der Post, die für das Weihnachtsfest der großartigste Knecht Ruprecht der deutschen Welt geworden ist.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Leipzig war von 1879 bis 1945 der Sitz des Reichsgerichts.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 859. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_859.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)