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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

sich das arme junge Weib gesehnt haben nach der Mutter, nach dem trauten Vaterhause, wie tief bereut haben, daß sie gegangen!

Sie rang sich die Hände, wenn ihr diese und ähnliche Gedanken kamen, und erst wenn sie den Brief immer wieder las, der die Gewißheit brachte, daß ihr Kind ausgekämpft habe und in Frieden schlummere, erst dann konnte sie ruhiger werden.

Und nun wandte sich ihr Mutterherz ganz und voll der Enkelin zu. Wie ein hohes unverdientes Glück kam es ihr vor, als wieder kleine Füße durch das Zimmer trippelten und ein paar Aermchen sich zärtlich nach ihr ausstreckten. „Kinder sind kein Spielzeug,“ flüsterte sie vor sich hin, wenn sie in überwallender Zärtlichkeit das Kind an sich reißen wollte, und dann zwang sie sich gewaltsam zur Strenge. Kein buntes Tüchelchen, kein Püppchen, nichts, gar nichts, wonach ein Kinderherz sich sehnt, bekamen die kleinen verlangenden Hände, und den Tadel der Leute, daß das arme Häschen auch gar so armselig aufgezogen, gar so streng gehalten werde, ertrug sie schweigend. Die Leute sahen es ja nicht, wie sie die Nächte stundenlang an dem Bette des Kindes knieete und ihm mit leisem Flüstern erzählte, warum sie ihm so viel versagen müßte, wie oft sie die schlafenden Augen küßte und die Fingerchen, die schon so fleißig stricken mußten!

„Du Herzenskind, Du dankst es mir noch einmal, daß Deine Großmutter so barsch mit Dir war, dann, wenn Du eine brave, fleißige Hausfrau geworden bist.“

Und nun wandern die Gedanken in die Zukunft; da wohnt nebenan der junge Tischlermeister, der jetzt das große Möbelmagazin baut; ist es ihr doch, als ob er mehr nach dem hübschen Mädchen guckt, als just nöthig sei – o, wenn das wäre, und wenn die Louise – welch ein Glück! Wie ruhig könnte sie sterben, das Mädchen in solchem Schutze zu wissen! Aber der wollte sicher nicht das Kind einer Davongelaufenen, von Theatersleuten – und sie ist doch so gut, so hübsch, fast ebenso hübsch wie ihre Mutter. Ach ja, der Väter Sünde rächt sich an den Kindern.

Seufzend erhob sie sich und schritt die Stufen hinunter; die Fenster des Wohnzimmers waren noch dunkel. Ob sie nur noch im Finstern saß und weinte? „Armes, dummes Ding, sie weiß gar nicht, wie gut ich es mit ihr meine.“

Sie schloß die Gartenthür und trat gleich darauf in den dunklen Hausflur: „Mach’ ein bischen Licht, Lieschen! Ich kann nicht sehen,“ rief sie, aber es rührte sich nichts im ganzen Hause, nur die alte Schwarzwälderin tickte eintönig weiter, und die Hauskatze strich mit leisem Miauen an ihren Kleidern vorbei. Sie ging in die finstere Stube. „Lieschen?“ fragte sie leise; dann öffnete sie das Fenster: „Lieschen, Lieschen!“

Keine Antwort.

„Sie trotzt heute wohl gar?“ murmelte sie und setzte sich geduldig wartend in den Stuhl zurück.

Vom Thurme schlug es Viertelstunde auf Viertelstunde – das Mädchen wollte nicht kommen; endlich tönten zehn langgezogene Glockentöne vom Schlosse herab und schlugen mahnend an das Ohr der alten Frau.

„Jetzt hört’s auf ein Spaß zu sein,“ sagte sie, sich emporrichtend; „Lieschen, Louise!“ rief sie wieder hinaus in die stille Sommernacht; man konnte doch sonst so gut jeden Ruf vernehmen dort oben in den Gärten, und vielleicht war sie doch dort bei Nachbarsleuten. – Keine Antwort; nur eine Fledermaus flatterte unheimlich scheu am Fenster vorüber.

Der alten Frau stand das Herz plötzlich still; wie, wenn sie doch in’s Theater gegangen? heimlich gegangen?

Sie legte die Hände vor die gefurchte Stirn. „Wenn sie das thäte, dann –“ Sie mochte es nicht ausdenken. Und doch, und doch! Könnte dann nicht noch einmal ein Tag kommen, an dem sie vergeblich rufen und suchen würde, wie dazumal, an jenem schrecklichen Tage? Wenn sie heute heimlich ging, wohin sie nicht sollte – konnte sie dann nicht auch ganz von ihr gehen? Hatte sie es denn damals gemerkt, daß ein Liebesverhältniß hinter ihrem Rücken spielte, eine Flucht geplant wurde?

Aber nein, nein, sie kommt noch; sie wird bei Nachbars Hannchen sein; wie kam sie auf ein solches Mißtrauen! Wie sie darauf kam? Als ob sie nicht getäuscht worden war, auf die grausamste Weise – und floß nicht der Eltern leichtes Blut in den Adern des Kindes?

Sie hatte plötzlich die Stubenthür geöffnet und war hinausgetreten vor die Hausthür; das Herz klopfte ihr, daß sie meinte, es hören zu können. „Lieschen!“ rief sie nochmals zu dem Garten empor, aber ihre Stimme zitterte.

„Guten Abend, Frau Rose,“ sagte vorübergehend ein Mädchen.

„Hast Du Lieschen nicht gesehen, Hannchen? Ich meinte, sie wäre bei Dir –“

„Bei mir? Nein; ich denke, sie ist im Theater; sie hat heut den ganzen Tag von weiter nichts geredet.“

„Schön Dank!“ sagte die alte Frau mit verlöschender Stimme.

„Gute Nacht, Frau Rose!“

Des Mädchens Schritte hallten durch die Nacht, dann wurde es wieder still auf der Gasse wie zuvor.

In dem Kopfe der alten Frau drehte sich eine ganze Welt von schrecklichen Möglichkeiten. „Sie ist fort,“ war das Einzige, was sie fassen konnte. Noch nie, so lange das Kind bei ihr war, hatte es sich je suchen lassen, und – richtig, es war so ganz anders in der letzten Zeit, so still, so nachdenkend, so – sie wußte selbst nicht wie.

Mit wankenden Schritten ging sie über die Straße; wohin sie wohl eigentlich wollte?

„Lieber Gott im Himmel, laß mir doch das Einzige, was ich noch habe, laß es mich nicht erleben, daß sie mich hintergeht!“ murmelte sie halblaut vor sich hin.

„Sie suchen wohl Lieschen, Frau Rose?“ fragte eine ruhige Männerstimme neben ihr.

„Herr Jesus! Gevatter, wißt Ihr’s – wo ist sie?“

„Nun, nun! Ihr seid ja ganz aus dem Häuschen; freilich weiß ich’s, aber ob ich’s verrathen darf, ist ein ander Ding.“

„O Gott, Gevatter, nur heraus damit – sie ist im Theater, nicht wahr?“

„Nun ja, so was Aehnliches ist’s wohl schon, wenigstens ist ein erster Liebhaber dabei. Guckt, drinnen sitzt sie mit meinem Bengel, dem Fritz, und sie herzen und küssen sich, die losen Vögel, gelt, Frau Gevatter, das hättet Ihr nicht gedacht, daß wir zwei Beide noch einmal verwandt werden sollten?“

„Mit dem Fritz?“ stammelte die alte Frau, und das Bild des jungen fleißigen Tischlermeisters stieg vor ihr auf – ihr Lieschen saß da mit dem Fritz? „Wo? Wo denn?“ rief sie dann und faßte in zitternder Hast nach der Hand des stattlichen Mannes; Hand in Hand gingen sie vor das Fenster des Nachbarhauses und blickten spähend hinein.

In dem Sorgenstuhle des Hausherrn am Ofen dehnt sich behaglich eine große Katze; am Tische vor der Lampe spinnt eifrig die alte Hausfrau, dort hinten aber, unter der Epheulaube, auf dem kleinen Korbsopha, sitzt der hübsche junge Meister, und hält ein über und über erglühendes Mädchen in den Armen.

Lange stehen sie stumm neben einander, die beiden Alten, und schauen das junge Liebespaar; ein Jedes von ihnen hat seine eigenen Gedanken.

„Der Himmel sei gelobt!“ flüstert die alte Frau endlich vor sich hin, und lächelt über die thörichte Angst, die sie gehabt; wie war sie nur auf so dumme Gedanken gekommen? Dabei tropft eine Thräne über die andere auf ihre saubern Haubenbänder, und dann schleicht sie sich leise fort, und bald sitzt sie wieder im einsamen Stübchen am Fenster. Hinter den gezackten Giebeln des alten Schlosses droben steigt eben der Mond empor; er wirft sein bläuliches Silberlicht über Häuser und Gärten und lugt durch die Monatsrosen und Geranien in das Gesicht der alten Frau; zum ersten Male seit langen Jahren liegt ein Lächeln des Glückes um ihren Mund. Eng gefaltet ruhen die Hände; sie denkt an ein Grab, das irgendwo in weiter, weiter Welt liegen muß, ungehegt und ungepflegt, aber sie denkt sein in Frieden – das Kind ist geborgen; sie soll glücklich werden, die Liese.

Da gleiten ein paar Schatten am Fenster vorüber; leise Schritte knistern auf den Sandsteinstufen draußen – dann noch ein Flüstern und Raunen; behutsam wird die Hausthür aufgemacht, und im nächsten Augenblick sinkt eine helle Mädchengestalt neben der alten Frau nieder; der blonde Kopf birgt sich in ihren Schooß, und weich und bebend klingt es:

„Großmutter, herzliebste Großmutter!“

Die alte Frau nimmt das Köpfchen zwischen ihre beiden Hände und sieht voll in das hübsche Mädchengesicht.

„Ei, Liese, Du bist mir gewiß noch recht böse, weil ich nicht haben wollte, daß Du im Theater des alten Dessauers erste Liebe sehen solltest, wie?“

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