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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

No. 49. 1879.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 1 ½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig• – In Heften à 50 Pfennig.


Unter'm Schlosse.
Von W. Heimburg.


Wenn man durch das Wasserthor die alte Stadt am Harze betritt, bleibt der Blick, der noch eben auf duftigen Blumenfeldern und üppigen Gärten, auf prächtigen alten Bäumen und der fernen blauen Bergkette geruht, an fast armseliger Umgebung haften, an dunklen, feuchten Gassen mit erbärmlichen Häusern und schauerlichem Pflaster, bevölkert von einer Menge nicht allzu reinlicher Kinder. Vor uns scheinen die hohen Felsen des Schloßberges den Weg zu versperren; sie sind überwuchert von Ligustersträuchern mit spärlichen lila Blüthen; oben, zur halben Höhe, kleben, wie Schwalbennester, kleine Häuser, noch höher hinauf rauschen die dunklen Kastanien des Burggärtleins, und hinter ihnen ragt der alte graue Bau des Schlosses empor, gekrönt von dem Thurm des ehrwürdigen Domes.

Die Straße hier unten windet sich eng zwischen den Felsen hindurch und führt dann steil empor, zum Entzücken der Kinder, weil es sich so wunderschön im Winter auf dem Schlitten hinunter sausen läßt. Dort oben sind die Häuser schon stattlicher, an jedem derselben sieht man eine Steinbank, oder wenigstens vor der Thür ein paar Stufen, die zum Sitzen benutzt werden.

Die Leute, die „unter’m Schlosse“ wohnen – so heißt die Straße – besitzen kleine Gärten, welche jenseits der Gasse steil an dem Schloßberg hinaufklettern und deren Pflege mühsam ist, denn viele, viele Stufen muß das erfrischende Wasser hinaufgetragen werden, und nicht selten reißt ein heftiger Gewitterregen Pflanzen und Erde von den Felsen und plätschert gleich einem Wasserfall die steinerne Treppe hinunter.

Aber heimlich und traut ist es in solch einem Berggarten. Ganz oben an die alte gewaltige Mauer des Schlosses schmiegt sich die schattige Lindenlaube, und aus dem frei geschnittenen Guckfenster kann der Blick hinausschweifen über die Stadt mit ihren vielen altersgrauen Wartthürmen, über gesegnete Felder und Fluren, weit, weit in das Land hinein, so weit, daß man bei hellem Wetter die Thürme des Magdeburger Domes zu erkennen vermag. Und seitwärts, da hebt es sich blau über einander fort, Berg an Berg, und über sie alle ragt die Kuppe des Brockens empor in ewiger majestätischer Ruhe.

Ja, es ist schön in der alten Lindenlaube hier oben, im Garten der verwittweten Frau Stadtmusikus Rose. Das weiß sie auch gar wohl, denn trotz ihrer siebenzig Jahre steigt sie noch jeden Sommerabend die sechsundfünfzig Stufen hinauf, um hier oben ein Feierstündchen zu halten. Da klingt eben die Schelle ihrer Hausthür, und die alte Frau schreitet über die Straße; rechts und links nickt sie freundlich den spielenden Kindern zu, und mit dem Glockenschlage sechs Uhr, der noch einmal so laut hier oben erschallt, ist sie durch die kleine Gartenpforte getreten und beginnt langsam die Treppe zu ersteigen.

Es ist ein eigenartig Gesicht, das da unter der sauberen Haube hervorsieht, voller Falten und Fältchen; zwei silberweiße Locken hangen zierlich aufgesteckt an den Schläfen, und die Nase ist fein, schier zu fein für den Mund unter ihr; noch hält sie den Blick gesenkt und liest sorgsam ein paar Schneckenhäuser von den Stachelbeersträuchern, aber jetzt schauen die Augen auf. Was für ein paar wunderbar junge Augen in dem alten Gesicht! So eigenthümlich in Schnitt und Farbe, und der Ausdruck wie der eines Mädchens, das noch nichts weiter gesehen als lachendes Leben. Ja, die Augen waren jung geblieben, trotzdem sie viel geweint hatten. Deshalb hingen der Frau Stadtmusikus auch alle Kinder an wie die Kletten, und aus Keines Hand schmeckten die kleinen grünen Stachelbeeren oder eine Muskatellerbirne je so süß, wie aus der ihren. Sie selber aber blieb auch gar zu gern bei Kindern stehen und herzte und küßte das oder jenes, und wenn sie ein ganz besonders hübsches sah, so konnten plötzlich bittere Thränen aus den blauen Augen fließen.

Nun trat sie in die Laube und ließ sich, tief Athem schöpfend, auf die Bank nieder. Sie blickte wie prüfend über die terrassenartig hinabsteigenden Gemüsebeete des Gartens, welche von schmalen Wegen durchschnitten wurden, und als ob sie Alles zur Zufriedenheit gefunden in dem engen Reich, schweiften ihre Augen nun in die Ferne, die im vollsten Glanze der Abendsonne duftig und gesegnet vor ihr ausgebreitet lag. So konnte sie stundenlang hinausblicken, als müsse dort etwas sein, das zu ihr solle, als suche sie etwas da draußen in der weiten Welt.

Auf dem Steintische vor ihr lag ein Haufen grüner Bohnen, sowie ein Messer neben einer Schüssel; eine derbe Schürze aus selbstgesponnener Leinwand hing daneben. Ueber die Stirn der alten Frau glitt ein leiser Zug des Mißvergnügens, als sie dies bemerkte. Einen Augenblick wollte sie wohl das Messer ergreifen und die angefangene Arbeit fortsetzen, aber dann nahm sie, wie sich rasch besinnend, ein Strickzeug aus der Tasche, ließ das schneeweiße Baumwollengarn in den Schooß gleiten und begann zu stricken. Ihre Gedanken waren wohl nicht dabei, Gott weiß wo sie umherschweiften; ihre Blicke hingen träumend an den fernen Bergen.

Ueber ihr flüsterten die Zweige der Lindenlaube, und kleine Mauerschwalben schossen zirpend an ihr vorbei, um das Nest in dem alten Gemäuer des Schlosses zu suchen. Unten auf der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 813. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_813.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)