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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

Finger vor, und Männer drohen mit der geballten Faust. Wenn wir, beleidigt, unsere Verachtung und unseren Hohn ausdrücken wollen, so heben wir unwillkürlich auf der Seite, auf welcher sich der Angreifer befindet, die Oberlippe nach dem Nasenflügel hin und legen dadurch den Eckzahn bloß, ganz wie der fletschende Hund. Diese Bewegung reducirt sich noch mehr beim Ausdruck der Geringschätzung, welcher durch leichtes Heben der Oberlippe, ohne einen Zahn sehen zu lassen, erzeugt wird, wie das recht stolze Damen meist sehr gut verstehen. Sowohl der Ausdruck des Hohns wie derjenige der Geringschätzung, zu deren Charakterisirung Darwin die beiden so ausdrucksvollen Photographien in sein Werk „Der Ausdruck der Gemüthsbewegungen“ aufgenommen hat, sollen den Angreifer, respective den Lästigen abschrecken und ein Schutz gegen weitere Annäherung sein.

Dabei denkt etwa eine feingebildete Dame sicher nicht daran, den nicht würdig erachteten Aufdringling gleich zu beißen, und doch ist diese Bewegung der Lippe, welche ganz unwillkürlich erfolgt, da sie eine durch viele Generationen vererbte Gewohnheit ist, noch ein Ueberbleibsel der thierischen Gewohnheit, mit den Zähnen zu drohen. Wie in jeder sich steigernden Leidenschaft der Mensch eine vorübergehende Rückbildung nach dem Thiere hin durchmacht, so braucht auch die Geringschätzung nur zum leidenschaftlichen Hohn, zur Verachtung und zu großer Wuth gesteigert zu werden, um die Lippen sich nach und nach so weit öffnen zu sehen, bis alle Zähne gezeigt und dieselben in äußerster Wuth sogar auf einander geschlagen werden, ganz wie bei den höheren Thieren. Diese interessante Stufenfolge leidenschaftlicher Drohung habe ich nirgends so gut beobachten können, wie bei sich streitenden neapolitanischen Fischerweibern. Zuerst geht man stolz mit geringschätzend erhobener Oberlippe an einander vorüber; dann bleibt man stehen, stemmt die Arme in die Seite, wippt mit dem einen Fuße, macht sich in leidenschaftlichem offenem Hohne das Compliment: „Ah, wie schön Du bist!“ und die Oberlippe läßt jetzt bei dem verächtlichen Anschauen von der Seite den einen Eckzahn sehen. Die Rede steigert alsdann die Leidenschaft und deren Ausdruck. „O, Du abscheuliches Gesicht!“ schreit man sich nun mit vorgestrecktem Kopfe einander zu, und die sämmtlichen Zähne werden sichtbar. „O, daß ich Dich in’s Gesicht beiße!“ kreischen endlich die heiser geschrieenen Stimmen bei vorgestreckten, zum Kratzen gekrümmten Fingern, weit geöffneten Augen und aufgerissenem Munde mit den drohenden fletschenden Zähnen. Noch eines jener derben Schimpfwörter und, nachdem man einander die Pantoffeln, dann die umstehenden Gläser, Krüge und Stühle zugeworfen, fällt man in der That mit kratzenden, zerrenden Händen und beißenden Zähnen einander an – und das Thier ist fertig.

Ein solches „Ende vom Liede“ zeigt deutlich genug, welche Bedeutung auch beim Menschen das Zähnefletschen hat, und zwar ist dasselbe bei uns so instinctiv, daß es schon erfolgt, wenn wir uns einsam nur in Gedanken mit Jemandem streiten.

Entsprechend dem Entrollen der Arme des Polypen, dem Vorschnellen des geöffneten Rachens bei Schlangen und Eidechsen, dem Vorstoßen des Schnabels und dem Schlagen mit den Flügeln bei den Vögeln und dem Aufstampfen und Emporschleudern des Sandes mit den Hörnern bei den Wiederkäuern, schnellt der Mensch die geballten Fäuste vor und schwingt seine künstlichen Waffen. Die Wilden schlagen oft zum Zeichen ihres Muthes mit der Keule auf den Boden.

Mit dem Bewegen der Waffen wird sehr häufig sowohl von Krebsen wie von allen Wirbelthieren eine rasche Ortsbewegung nach dem Feinde hin, ein „Daraufzufahren“ verbunden, welche Bewegung aber nicht zum Zwecke eines thatsächlichen Angriffes, sondern nur zum Abschrecken ausgeführt wird. An feigen Hunden kann man das am meisten beobachten, und auch der Mensch bedient sich dieses Mittels, insbesondere wenn er nicht gerade lebensgefährliche Thiere verjagen will.

Der „H“-Laut, welchen der Mensch in der Wuth bei geöffnetem Munde hervorstößt, entspricht ganz und gar dem Fauchen, welches wir so oft an katzenartigen Raubthieren, etwa an gefangenen und gereizten Löwen, beobachten, und all den ähnlichen Lauten, welche in den verschiedensten Formen, als „Zischen“, „Fauchen“, „Brausen“, „Schnarchen“, „Schnauben“, „Knurren“ etc., von allen Reptilien, Vögeln und Säugethieren in der Wuth zum Abschrecken des Feindes ausgehaucht werden. Es ist dies Fauchen wohl zu unterscheiden von dem Brüllen und Schreien, durch welches die Vögel und Säugethiere, vorzüglich die Walrosse und Seelöwen, ihre Angreifer abzuschrecken suchen, wie nicht minder die Menschen: soll es doch vorgekommen sein, daß ein Löwe einen gepackten Knaben, durch dessen fürchterliches Schreien erschreckt, wieder hat fallen lassen. Das Brüllen und Schreien spielt in den Kämpfen der wilden Völker als furchterregendes Mittel eine sehr wichtige Rolle, und auch die alten Germanen haben es bekanntlich an Schlachtgeschrei nicht fehlen lassen. Sucht doch auch jetzt noch der civilisirte Soldat durch ein laut schallendes „Hurrah“ bei Erstürmung einer Position auf den Feind entmuthigend einzuwirken, und sicher nicht ganz ohne Erfolg. Auch bei jedem rohen Zweikampfe sucht der Mensch seinen Gegner durch Anschreien und Anbrüllen, das heißt durch überlautes Hervorstoßen seiner Worte zu entmuthigen.

Wo die Stimme der Menschen nicht ausreicht, erzeugt er anderen Lärm zum Abschrecken. Bei heftigem Streite schlägt er mit der Faust oder dem Stocke laut dröhnend auf den Tisch. Nilpferde und Tiger verscheucht er durch Trommeln und leckere Vögel und Flederhunde durch klappernde Windmühlen. Viele höhere Säugethiere, namentlich Affen, suchen auf ähnliche Weise durch Schütteln der Baumäste, andere, wie die Hufthiere, durch Aufstampfen drohenden Lärm zu erzeugen, und wenn wir im Zorne ganz unwillkürlich, ohne irgend welchen Gedanken dabei, also instinctiv, mit dem Fuße aufstampfen, so entspricht das ganz und gar der analogen Bewegung der Thiere, um Lärm zu erzeugen, und je lauter die Fußtritte schallen, desto mehr entsprechen sie unserem Zorne, desto mehr sind wir davon befriedigt.

So sehen wir also bei jeder Gewohnheit, daß die Bewegungen des Menschen ein ebenso inniges Geflecht von instinctiven, beziehentlich vererbten Gewohnheiten und auf Bewußtsein des Zweckes beruhenden Willensäußerungen sind, wie dies bei jedem Thiere der Fall ist.

Nur einige wenige Mittel zum Abschrecken stehen allein dem Menschen zu Gebote. Er vermag seines Gleichen mit Worten zu drohen und durch künstliche Gebilde, durch Vogelscheuchen, sowie durch Feuer viele Thiere von sich fern zu halten. Andrerseits kommt bei den Thieren kaum ein Schreckmittel vor, welches nicht auch der Mensch anwendete.

„Nicht aller Mensch ist im Thiere, aber alles Thier ist im Menschen.“ (Scheitlin.)

Drohende Thiere sind im Allgemeinen wenig zu fürchten, die Versuche, den Feind durch Aufblähen oder Drohen mit den Waffen abzuschrecken, meist ein Zeichen der Schwäche, der Unsicherheit und Feigheit, während muthige Thiere wenig mehr Gebrauch vom Drohen machen. Man kann selbst sagen, daß unter einer Thiergattung, welche im Ganzen eine energische thätliche Vertheidigung übt, diejenigen Individuen, welche die feigsten sind, am meisten das Schreckmittel des Drohens anwenden.

„Hunde, die viel bellen, beißen nicht –“ dieses Wort bewährt sich in all den genannten Thiergewohnheiten.


Die Stedinger.

Ein Blatt aus dem Schuldbuche der Hierarchie.
Mit Illustrationen vom Verfasser.

Da, wo sich jetzt die Marschen der Unterweser ausbreiten – ein von den Geest- und Dünenbildungen in weitem Bogen nach Ost und West begrenzter alter Meerbusen – erstreckten sich einst Wüsteneien von Moor, Sumpf und schilfbewachsenen Inseln, kleine und große, welche theils von der in viele Arme sich spaltenden Weser, theils von den die Geest herabkommenden Wasserläufen gebildet wurden. Wie sehr sich das Landschaftsbild aus jener Zeit von dem der Gegenwart unterscheidet, darauf deutet eine Ueberlieferung

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 803. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_803.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)