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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

entschädigt worden. Er könne sich nicht beschweren. Das Geheimniß und die eigenthümlichen Umstände bei der Einschiffung habe er sich durch die Kriegsereignisse und den leidenden Zustand der Dame erklärt, für welche die größten Rücksichten zu beobachten ihm noch besonders eingeschärft worden.

„Nun,“ setzte er mit sichtlicher Befriedigung hinzu, „ich denke, es ist Alles nach Wunsch gewesen. Die verwöhnteste Lady der ganzen Union könnte sich an meinem Bord nicht beklagen.“

Den Mulatten hatte er einfach für einen Sclaven des Pflanzers gehalten und war nur erstaunt gewesen, als dieser Letztere sich plötzlich als ein harmloser deutscher Gelehrter entpuppte.

Das Wetter blieb unverändert schön und der Wind günstig; die Fahrt ging demnach glücklich, wenn auch sehr einförmig von statten, und zur bestimmten Zeit kam Liverpool in Sicht.

Von seiner Frau hatte Walter noch immer nichts gesehen. Nur die Mulattin sah er manchmal vorüber huschen, immer eilig, mit gesenkten Augen, immer gewählt, meist in Seide gekleidet, aber immer auch mit den unverkennbaren Abzeichen einer dienenden Stellung. Sie schien nur Spanisch zu verstehen; wenigstens gehörten die seltenen leisen Worte, die Walter von ihr vernahm, alle dieser Sprache an; als er jedoch ein paar Mal versuchte, sie in derselben anzureden, erschrak sie so heftig und ihre Verwirrung war so peinlich anzusehen, daß er ihr nicht einmal recht zu zürnen vermochte, als sie ihm die Antwort schuldig blieb.

Als er aber eines Tages zu ungewohnter Stunde – es war die Zeit, die er auf dem Deck zu verbringen pflegte – in seine Kajüte hinunter ging, sah er zu seiner Verwunderung die Thür der Nebencabine offen stehen, wahrscheinlich um der stärkenden Seebrise einen freieren Zutritt zu gewähren.

Mit einer leichtverzeihlichen Neugierde – war es ja doch das Zimmer „seiner Frau“ – und einem Herzklopfen, das er die Minute vorher noch für unmöglich gehalten hätte, trat er sachte näher und gewahrte in dem äußerst behaglich ausgestatteten kleinen Raume eine weibliche Gestalt, welche, den Rücken gewendet und in ein langes weißes Morgenkleid gehüllt, in einem vergoldeten Schaukelstuhle ruhte, über dessen Rückenlehne ihr schwarzes, bläulich glänzendes Haar in reichen, schweren Wellen niederfloß. Die Mulattin war nicht zugegen. Walter hatte sie erst vor einer kurzen Weile in ihrer gewohnten eiligen Weise sich nach den unteren Regionen des Schiffes wenden sehen, und als jetzt eine matte, traurige, aber, wie es Walter dünkte, unendlich süße Stimme nach „Mammi“ rief, trat er mit einer unwillkürlichen dienstbereiten Bewegung selber ein paar Schritte vor.

Allein kaum war der erste Ton seinen Lippen entflohen, als die Gestalt jählings auffuhr und, als ob der Blitz vor ihr niederschlüge, mit einem durchdringenden, herzerschütternden Schrei auf die Kniee und dann immer tiefer, das Gesicht abwärts gewendet, wie bewußtlos auf den Teppich glitt.

Walter wich entsetzt zurück. In demselben Augenblick stürzte auch schon die Mulattin an ihm vorbei, drängte den Erstarrten ohne Umstände zur Thür hinaus und schlug sie dann klirrend vor ihm zu. Erschrocken fragte sich Walter, ob Melazzo seine Tücke so weit getrieben, ihn mit einer Wahnsinnigen zu verkuppeln.

Darüber konnte der Arzt ihn vollständig beruhigen. Der gute Mann war trostlos und sehr zornig über diesen Ueberfall, den der ungeduldige Ehemann, wie er sich ausdrückte, verrätherisch hinter seinem Rücken ausgeführt und der für seine Patientin die traurigsten Folgen haben konnte.

„Wahnsinn? – Possen! – Krämpfe – Rückfall – Dummheiten.“

Was den Rückfall anbelangt, so hatte der Arzt sich leider nicht geirrt; von nun an blieb die Thür zur Cabine wie hermetisch verschlossen, und Walter hütete sich wohl, sie auch nur zu berühren, wenn er daran vorüber ging.

Nun legte das Schiff endlich in Liverpool an, und weiteres Versteckenspielen war nicht mehr möglich.

Es war gegen Abend, als die Fluth der Passagiere sich in die bereit gehaltenen Boote ergoß, um an das Ufer gebracht zu werden.

Nur Miß Walter zeigte sich noch immer nicht.

Eine geraume Weile wartete der junge Gelehrte geduldig vor ihrer Kajüte; endlich öffnete sich deren Thür. Walter war doch überrascht von der überaus zarten Gestalt, die schüchtern und sich fest an der voranschreitenden Mulattin haltend, über die Schwelle trat. Mehr als ihre Gestalt sah er freilich nicht. Ein weiter schwarzer Capuchon, an dem vorne ein dichter Schleier von derselben Farbe befestigt war, verhüllte sowohl die Form ihres Kopfes wie auch ihr Gesicht. Ihre Kleider waren schwarz und deuteten auf tiefe Trauer.

Mit einem leichten Neigen des Hauptes beantwortete sie seinen Gruß und trachtete dann an ihm vorbei rasch weiter zu kommen. Aber dieser erste Anlauf erlahmte schnell; sie mußte sehr schwach oder über alle Maßen geängstigt sein, denn ihr Gang war auffallend unsicher, und schon nach den ersten Schritten lehnte sie sich erschöpft an ihre Begleiterin.

Eben wollte Walter ihr seinen Beistand anbieten, als schon schallenden Schrittes der dicke Schiffsarzt heran kam; er zog ohne Umstände den Arm seiner Patientin in den seinigen und führte sie auf das Verdeck. Dem Ehemann blieb nichts übrig, als hinterher zu folgen. Und oben war es um nichts besser, denn da wartete schon der Capitain, um Abschied zu nehmen und seiner Schutzbefohlenen selbst in das Boot zu helfen, was er alles mit einer besonders aufmerksamen achtungsvollen Ritterlichkeit vollbrachte.

Beim Abschied küßte der dicke Arzt die junge Frau, ohne erst viel zu fragen, väterlich derb auf beide Wangen; zwar über dem Schleier, doch fand Walter, daß diese letztere Ceremonie füglich hätte unterbleiben können.

Erst am Ufer beim Landen kam er selbst zu seinem Recht. Er half ihr aus dem Boot und in den Wagen, und als er dabei jedesmal ihre kleine zitternde Hand für die Dauer einer Secunde in der seinigen hielt, überwallte ihn ein brüderlich warmes Bedauern, so scheu und furchtsam erschien ihm der leichte, flüchtige Druck. Der Mulattin erwies er denselben Dienst und nahm dann ihnen gegenüber seinen Platz.

Und nun auf der Fahrt nach dem Hôtel, ihr so nahe und in dem engen Raum bei jeder kleinen Bewegung mit ihr in Berührung gebracht, fühlte der junge Ehemann sich wunderbar beklommen. Jedesmal, wenn von den Gaslaternen auf ihrem Wege ein Lichtstrahl in den Wagen fiel, irrte sein Blick unwiderstehlich zu der ihm so nahe verbundenen verschleierter Gestalt hinüber. Sie hatte den Kopf ermüdet an die Schulter ihrer Nachbarin gelehnt; die auffallend kleinen Hände, von langen schwarzen Handschuhen bedeckt, ruhten matt in ihrem Schooße, und in der ganzen Haltung lag neben einfacher kindlicher Anmuth eine so tiefe, namenlose Traurigkeit, daß es ihrem durchaus nicht hartherzigen Gegenüber gewaltsam an die Seele griff.

Im Hôtel bestellte er die nöthigen Räumlichkeiten, und nachdem er, soweit es ihm möglich war, für die Bequemlichkeit seiner Begleiterinnen gesorgt und sich selbst durch ein Glas Wein gestärkt, ging er aus, um sich die fremde unbekannte Stadt noch ein wenig in der Abendbeleuchtung zu besehen.

Bei seiner Rückkehr erfuhr er, daß die Frauen sich bereits zur Ruhe begeben. Er fragte, ob seine Frau (wie geläufig das Wort ihm bereits von der Zunge ging!) sehr leidend gewesen?

„Sehr blaß habe sie allerdings ausgesehen – poor sweet young lady!“ schloß das nette Stubenmädchen mit einem theilnehmenden Seufzer.

Walter fühlte keine Neigung zum Schlafen. Ein helles Kohlenfeuer brannte im Kamin und spiegelte sich gemüthlich in der stählernen Einfassung ab. Er setzte sich bequem davor hin, verlangte noch eine Flasche Wein und Zeitungen, und von den leichten Wölkchen einer Havannah umspielt, entwarf er gemächlich seinen Lebensplan. Einmal mußte er doch gemacht werden. Die Heimath war nahe, und was bis jetzt einem phantastischen Traume geglichen, trat nun unabweislich in den Kreis des täglichen Lebens ein.

Zum ersten Male entschloß er sich also, den Thatsachen gerade in’s Gesicht zu sehen, und siehe da: es wurde ihm gar nicht so schwer. Er hatte eben, wie es zu geschehen pflegt, sich ganz unmerklich an sein Unglück gewöhnt. Freilich brachte er seiner Mutter eine Schwiegertochter mit, gegen die sie sich wahrscheinlich mit Hand und Fuß gesträubt hätte, wenn man sie vorher gefragt. Allein sie war nicht gefragt worden; die Heirath stand da als vollendete Thatsache. Das Mädchen war noch ein Kind, der Einwirkung erziehender Elemente in keiner Weise entwachsen; zudem war sie krank, und seine Mutter, wenn auch keine gelehrte, doch eine warmherzige Frau, welche mit Recht in allen rein menschlichen Fragen das volle Vertrauen ihres Sohnes genoß. Sie

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