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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)


No. 44. 1879.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 1 ½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig· – In Heften à 50 Pfennig.


Felix.
Novelle von Karl Theodor Schultz.
(Schluß.)


11.

Einige Tage waren vergangen. Mit den besten Vorsätzen hatte Pranten am Morgen nach der Gewitternacht die Klinik betreten, sich unausgesetzt beschäftigt und selbst seine Freistunden damit hingebracht, allerlei in letzter Zeit in Unordnung Gekommenes wieder in den alten Gang zu bringen. Seine Stimmung war dabei frischer, weniger unruhig als seit Monden. Freilich, sobald irgend eine nothwendige Pause in seiner Beschäftigung eintrat, sah man ihm an, daß er tief ermüdet sein mußte, trotz des fieberhaften Verlangens nach immer neuer Thätigkeit.

So war wieder einmal der Abend herangekommen, die Klinik wurde geschlossen und Pranten schritt langsam den Rosengang hin, seinem Häuschen zu. Die Blumen dufteten stark; ein Luftzug, kaum fühlbar, streifte seine Wangen; die eben untergehende Sonne hauchte über Alles einen goldenen Schimmer.

Pranten fühlte sich unendlich wohlthätig berührt; der Athemzug so vieler Schönheit erquickte ihn, wie ihn seit lange nichts erquickt hatte. Sein Schritt wurde immer langsamer, und bei der Wendung des Ganges, wo sich der Durchblick auf’s Gebirge öffnete, blieb er stehen. Träumerisch folgte er den zarten, so bestimmten und doch gleichsam in den Horizont verschwimmenden Berglinien. Etwas wie Sehnsucht nach der bloßen Ferne, Sehnsucht ohne Namen, ohne wahren Zweck stieg in ihm auf. Mit einem Seufzer riß er sich los; mit tieferem Aufathmen betrat er sein Zimmer.

Das Fenster stand offen; im Zuge bewegten sich die weißen Vorhänge; Schwalben flogen hin und wieder.

Genau so war es gewesen, als er an jenem verhängnißvollen Gewitterabend heimgekehrt. Und mit dem Gedanken wurde auch wieder das ganze Elend der Gegenwart in ihm lebendig; er sank wie erschöpft auf einen Stuhl und verlor sich in regungsloses Hinbrüten.

Mehr und mehr erlosch alles Licht; ein frischerer Wind wehte auf; wie mit den Wolken trieb die Dämmerung daher. In den Ecken begannen Schatten zu lagern; ein leises Tönen geheimnißvoller Laute, halb Blätterrauschen, halb Windesstimmen, zog durch den Raum, und die Vorhänge bauschten sich wie um Gestalten. Pranten sah in der That Gestalten, doch immer dieselbe eine: jetzt ihm die Arme öffnend, jetzt mit sanftem Ernst ihn anblickend oder fortschwebend und winkend. Er fuhr mit der Hand über die Augen; der Spuk war verschwunden, aber das heiße, unbezwingliche Sehnen nicht. So viele Tage hatte er schon durchgerungen und endlich selbst die Hoffnung verloren, von ihr noch zu hören. Alles zu Ende, Alles wieder so öde um ihn her, wie es immer gewesen. Und dennoch erschien er sich ruhig heute, so todtruhig, daß er wohl wagen konnte, was er bis dahin vermieden hatte – warum eigentlich vermieden? Liegt es doch tief in der Natur des Menschen, die Stätte wiedersehen zu müssen, wo er glücklich gewesen. Sucht er aus ähnlichem Grunde nicht auch seine Todten auf?

Mit raschen Schritten, als könnte ihm noch Reue kommen, eilte Pranten, die Hauptstraße, die er sonst gegangen war, heute vermeidend, durch ein anderes Stadtviertel nach der Frauengasse, die er ein wenig oberhalb des Hauses, wo Josephine wohnte, betrat. Es war inzwischen völlig dämmerig geworden und wohl unnöthig, daß er dicht an den gegenüberliegenden Häusern der Straße hinschritt, aber es trieb ihn etwas dazu. So näherte er sich Nr. 18; je näher er kam, um so starrer wurden seine Blicke, um so beklommener sein Empfinden, als thäte er dennoch Unrechtes.

Alle Jalousien der Fenster niedergelassen; nirgends ein Lichtschimmer! Sonst waren die Jalousien des Gesellschaftszimmers stets offen geblieben – aus welchem Anlaß hatte man sie geschlossen? Die hämmernden Schläge des Herzens wollten in Pranten’s Brust nicht aufhören. Wär’ es denkbar, was er doch denken mußte – fort? Josephine fort? Abgereist ohne ein letztes Wort? Wirklich vorbei, was er trotz Allem noch nicht hatte fassen können? Aber nein! Es war heiß gewesen; nur deshalb hatte sie die Jalousien schließen lassen; wie immer saß sie auf dem Altan – darum fehlte auch das Licht in ihrem Zimmer. Jeden Augenblick konnte es aufleuchten – – war es da nicht schon? Oeffnete sich nicht das Fenster? Unwillkürlich trat er einen Schritt zurück. Bloße Täuschung! Alles blieb unverändert.

Wie ließ sich erfahren, ab sie daheim war? Im Eckladen drüben konnte er etwas kaufen – dabei fragen. Und wenn man ihn erkannte? Er sah sich rathlos um; da lehnte noch ein Dienstmann.

Er trat zu ihm und theilte ihm mit einer gewissen Ueberstürzung sein Verlangen mit. Der Mann lachte breit.

„I da kann ich Ihne schon Auskunft gebe; die Herrschaft is verreist; ich habe die Koffer selbst zur Bahn bringe müsse. – Zwei Damens?“

Pranten nickte.

„Eine so ein schmales Herrgottskäferche? kreideweiß?“

„Entsinnen Sie sich des Tages?“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 729. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_729.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)