Seite:Die Gartenlaube (1879) 713.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)


No. 43. 1879.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 1 ½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig· – In Heften à 50 Pfennig.


Felix.
Novelle von Karl Theodor Schultz.
(Fortsetzung.)


8.

Nachdem das Stubenmädchen am nächsten Morgen im Zimmer Pranten’s geheizt hatte, mußte sie eine ganze Weile klopfen, bis ihr aus dem Alkoven geantwortet wurde. Als sich Pranten jedoch erst völlig ermuntert hatte, war auch alles Nebelgebilde, das ihn während der vergangenen Nacht beängstigt, spurlos verschwunden; es regte sich Nichts in ihm, als das Gefühl der Verantwortung, die ihm als Arzt oblag, und das gab ihm Ruhe und die gewohnte Sicherheit. Doctor Pflummern untersuchte noch am selben Tage auf Pranten’s Wunsch die Augen Josephinens, und da auch er den Zeitpunkt für die Operation herangekommen erklärte, ging Pranten unverzüglich an die Ausführung.

In den nächsten Tagen war er mehr Arzt als Bräutigam; tägliches Prüfen der Augen, die Beobachtung des Gesammtbefindens Josephinens, all das Durchsprechen der einzelnen, bei nicht völlig günstigem Verlauf nothwendigen Einrichtungen gaben dem Verkehr des Brautpaars etwas Ernstes, Gehaltenes. Dennoch trat er Josephinen dadurch nur immer näher; wo anfangs das Herz allein gesprochen, that jetzt auch die Ueberlegung ihr Scherflein dazu. Und dies Scherflein wuchs von Tage zu Tage, da Josephine nun erst mit Stolz und Genugthuung die ganze Thätigkeit ihres Verlobten erkannte. Ja es überkam sie ein so tiefer Respect vor ihm und seinem Wissen, daß ihr jedes Bangen und Zagen ungerechtfertigt erschien. Fast mit Ungeduld erwartete sie die Stunde der Erlösung.

Und sie kam.

Um Josephinens Gemüthsruhe völlig zu wahren, sollte die Operation in einem ihrer eigenen Räume stattfinden. Man entschied sich schließlich für das Wohnzimmer, und so richtete es denn der alte Diener aus der Klinik eines Morgens dazu her. Das eine Fenster wurde dicht verhangen; seitwärts vom andern stellte er einen hochlehnigen Stuhl.

Auf Pranten’s Arm gestützt, betrat Josephine das Zimmer. Sie lächelte. Keine Spur von Sorge oder Aengstlichkeit war in ihren Zügen; bei dem Anschmiegenden, tief Vertrauensvollen ihres Wesens erschien sie nur lieblicher als je. Das mochte selbst Pranten trotz des Ernstes der Stunde empfinden; der Ausdruck, mit dem er auf sie niedersah, strahlte wahrhaft in Glück und Stolz.

Anmuthig, mit halbem Scherz begrüßte Josephine den Diener, ließ sich von ihm zu dem Stuhl führen und versuchte, selbst die nothwendige Binde um ihr rechtes Auge zu legen.

Als die Finger dabei doch ein wenig zitterten, half ihr der Alte, indem er beruhigend sagte: „Nur Muth, mein liebes Fräulein! Der Herr Baron versteht’s; ich bin lange Jahre in der Klinik, aber so wie der Herr Baron hat’s noch Keiner verstanden – das sagt auch Doctor Pflummern. Wie spielend gehts.“

Pranten, der seine Instrumente aus dem Nebenzimmer geholt hatte, hörte noch die letzten Worte. Er nickte dem Alten zu und fragte, Josephinens Hand fest umschließend. „Bist Du bereit!“

„Ich bin es!“ hauchte diese, ihre Hände im Schooße faltend.

Der Alte drückte ihren Kopf leicht gegen die Rücklehne des Stuhls, indem er zugleich das obere Lid ihres linken Auges fixirte. Pranten atmete einmal auf; dann faßte er sich gewaltsam und ging sicher wie immer an’s Werk.

Ein kurzer Schnitt, ein unwillkürliches Zusammenziehen der losgelassenen Augenmuskeln, und die Linse fiel heraus.

„Licht, o das ist Licht!“ rief Josephine, ehe der Alte das Auge unter der Binde verbarg.

Mit welchen Gefühlen lehnte sie dann an Felix’ Brust! Ein Unaussprechliches von Dank war in ihr. Und doch durfte sie es nicht äußern, denn immer, sobald sie sprechen wollte, küßte er ihr den Mund zu und bat flehend um Vermeidung jeder Aufregung.

Endlich fügte sie sich. Als aber die Cousine trotz des Verbotes mit leisem Schluchzen in das Zimmer drang und sie heftig in die Arme schloß, schwand plötzlich ihre bis dahin gewahrte Kraft, und sie wäre zu Boden gesunken, wenn Felix sie nicht aufrecht gehalten hätte. Er nahm die Ohnmächtige auf die Arme und trug sie nach ihrem Schlafzimmer. Dieser völlig verdunkelte Raum blieb in den nächsten Tagen ihr Aufenthaltsort.

Nachdem sich Pranten am folgenden Morgen überzeugt hatte, daß Alles seinen normalen Verlauf nahm, erkundigte er sich einige Mal nur bei der Cousine nach Josephinens Befinden, ohne sie selbst aufzusuchen. Sie war ihm nämlich an dem Morgen nach der Operation so aufgeregt erschienen, daß er fürchtete, durch zu häufige Anwesenheit die Heilung zu verzögern. Josephine drang nicht auf sein Kommen.

Am Nachmittage des dritten Tages – die Cousine war zufällig ausgegangen – konnte er aber nicht mehr widerstehen und ließ Josephine fragen, ob sie ihn sprechen wolle. Es laut eine bejahende Antwort; so trat er hastig bei ihr ein.

Die Dunkelheit und seine Aufregung ließen ihn im ersten Augenblick die Geliebte nicht finden, im nächsten sah er ihre Gestalt an einem Sessel stehen. Er eilte auf sie zu; sie that ihm keinen Schritt entgegen, reichte ihm nur eine Hand; die andere hielt die leichte Binde, welche sie eben abgenommen hatte.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 713. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_713.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)