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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

der Wunde röthet; selbst mit dem Biß unserer Kreuzspinne hat es nicht mehr auf sich. Dagegen verursachen die großen Spinnenarten, besonders die außereuropäischen darunter, schwerere Allgemeinsymptome; bald stellen sich Frostschauer ein, leichte Delirien und ein geringes Fieber; in schweren Fallen kommen vereinzelt Convulsionen hinzu, und der Kranke gesundet gewöhnlich, unter reichlichen Schweißen, erst nach einigen Tagen.

Innerlich genommen, erzeugt das Spinnengift ähnliche Symptome, nur in geringerem Grade: sie bestehen in einem unbeschreiblichen Wehe- und Krankheitsgefühl, Herzbeklemmung und erhöhter allgemeiner Reizbarkeit. Zuweilen treten auch hier Convulsionen auf, gewöhnlich aber erfolgt die Heilung sehr rasch, nachdem wiederum ein reichlicher Schweißausbruch den kritischen Zeitpunkt angezeigt. Die Symptome sind nicht dieselben und deuten nicht eine Einwirkung auf eine bestimmte Sphäre an. Sie sollen jedoch periodisch jeden Tag um dieselbe Zeit wieder auftreten und aus diesem Grunde wurden die Spinnen, besonders Tarantel, Kreuzspinne und die nordamerikanische Clubione, entweder gepulvert, oder in Oel oder Spiritus aufgelöst, von französischen und spanischen Homöopathen gegen Wechselfieber empfohlen, auch gegen andere periodisch auftretende Leiden, wie Epilepsie und Hysterie angewendet, deren Symptome der Wirkung des Giftes verwandt sind.

In Nordamerika werden einige Spinnenarten als blasenziehendes Mittel verwerthet, indem man sie zerquetscht und ohne weiteres auflegt. Der Effect ist derselbe wie bei den spanischen Fliegen, nur etwas schwächer. Die Neger auf den Antillen gebrauchen die Thiere als ein Mittel gegen Zahnschmerzen. Die unleugbare Einwirkung des Spinnengiftes auf die geschlechtliche Sphäre muß hier wenigstens erwähnt werden.

Was nun speciell die Wirkungen des Tarantelbisses betrifft, so sind diese jedenfalls übertrieben geschildert worden, namentlich von älteren Beobachtern, welche in Folge der Berichte über die Tarantel-Epidemie an starker Voreingenommenheit litten. Aber auch heute noch werden von spanischen Aerzten Krankengeschichten veröffentlicht, welche an Absurdität Großes leisten. Am vertrauenswerthesten sind verhältnißmäßig die Beobachtungen von Ozanam und Nuñez, welche im Wesentlichen auf Folgendes hinauslaufen: Der Biß der Tarantel erzeugt einen heftigen Schmerz, welcher von Einigen mit dem eines Bienenstiches, von Anderen mit dem des Bisses einer Ameise verglichen wird. Zugleich hat der Verwundete ein Gefühl der Kälte in dem verletzten Theile. Die Wunde umsäumt sich bald mit einem rothen Hofe; sie wird hart, schmerzhaft und etwas erhaben. Bald bemächtigt sich des Kranken ein unbestimmtes Gefühl der Ermattung, des Unbehagens; dazu kommen oft leichte Zuckungen einzelner Muskeln; es erfolgen Klagen über Schwindel; der Puls wird klein, unregelmäßig und sehr schnell. Bald stellt sich eine Apathie gegen die Umgebung ein, eine Theilnahmlosigkeit, welche in schweren Fällen in Schlafsucht übergeht. Dabei ist die Reizbarkeit ungemein erhöht, sodaß die Kranken bei jedem Geräusche erschrecken und zusammenfahren. Die Zunge wird trocken; der Appetit verschwindet, und der Durst wird sehr groß. Bald tritt Aufstoßen und galliges Erbrechen hinzu, oft mit heftigen Leibschmerzen verbunden; bald werden alle Glieder schmerzhaft, Schweiß bricht aus, der zuweilen, indem er die Oberhaut in Bläschen abhebt, einen oberflächlichen Ausschlag erzeugt. Melancholie, mitunter an Tobsucht wurden beobachtet.

Die Intensität dieser Symptome soll durch gewisse Farben gesteigert oder gemildert werden; musikalische Dissonanzen sollen die Kranken gereizt und wild machen. Mit dem Eintritt der kälteren Jahreszeit lassen die Erscheinungen allmählich nach, ebenso durch Bewegungen, welche starken Schweiß erzeugen, „sowie auch durch den Klang der Tarantella“. Zuweilen sollen täglich um die gleiche Stunde die Symptome an Heftigkeit zunehmen, und gewöhnlich soll die Krankheit jährlich am Tage des Bisses wieder auftreten. Sobald die Tarantella ertönt, richten die Kranken sich auf, bewegen ihre Glieder erst langsam, dann geschwinder; zuletzt springen sie, indem sie ihre Schwäche und ihren trostlosen Zustand überwinden (oder vielleicht auch vergessen), vom Lager auf und tanzen einen wilden Tanz, bis sie ermattet niedersinken. Dann sind sie geheilt, wenigstens für ein Jahr; bricht im nächsten Jahre um dieselbe Zeit die Krankheit wieder aus, was aber nicht nothwendig geschieht, so kann auch dann nur die Tarantella retten.

Es liegt kein Grund vor, sich gegen die Schilderung der Krankheitssymptome in diesen Berichten ablehnend zu verhalten. Man muß allerdings dabei als einen wesentlich steigernden Factor der Wirkung die Todesfurcht des spanischen Volksaberglaubens mit hinzunehmen, welcher recht wie absichtlich dazu beiträgt, die Wirkung zur möglichsten Höhe zu steigern, unter Anderem auch, indem er jedes Hülfsmittel mit Ausnahme des Tanzens verschmäht. Um wieviel anders die Berichte lauten würden, wären sie im Süden von Osteuropa geschrieben, wird demjenigen sofort klar, welcher weiß, daß die südlichen Völker im Osten Europas sich von dem Biß der Tarantel durch Auflegen von Oel oder von Branntwein auf die Wunde curiren; sie sterben davon nicht und fühlen niemals das Bedürfniß, zu tanzen. Sie kennen eben dieses Mittel nicht, oder glauben vielleicht auch nicht daran. Es ist hier die Stelle, um auch an den Bericht des Dr. R. Brehm über seine Erfahrungen bezüglich des Tarantelbisses zu erinnern, welchen die „Gartenlaube“ früher einmal (Jahrgang 1863, Seite 95) veröffentlicht hat. In Spanien selber, in der Provinz Murcia, hat Brehm von der Tarantel Gebissenen Querschnitte über die Geschwulst gemacht und diese mit Ammoniak eingerieben, worauf die Wirkung des Bisses bald verschwand, und er hatte die Genugthuung, die alte Heilmethode bei einem Theile der Bevölkerung – nicht den Gebildeten und den Aerzten! – in Mißcredit zu bringen. Es ergiebt sich hieraus zum wenigsten, daß an und für sich von einer Nothwendigkeit des Tanzens oder auch nur starker Bewegungen beim Hören einer bestimmten Musik weder in Folge des Tarantelbisses, noch zum Zweck seiner Heilung die Rede sein kann. Damit ist nun freilich nur die Nothwendigkeit, nicht die Möglichkeit von beidem geleugnet. Es ist vielmehr nicht zu bezweifeln, daß bei abnormen Nervenzuständen ebensowohl jenes wunderliche Verhalten gegen Farben, wie eine krankhafte Empfänglichkeit für Musik namentlich bei südlichen, der Musik und dem Tanz leidenschaftlich ergebenen Völkern, auftreten können. Dergleichen plötzlich auftauchende und wieder verschwindende Idiosynkrasien zeigt beispielsweise der Verlauf des weiblichen Lebens, wie denn schon früher der Hysterie als einer symptomverwandten Erscheinung gedacht worden ist. Daß in der That die Nervendisposition der Tarantismus-Periode des Mittelalters eine heruntergekommene war, ist am Anfang unseres Artikels bemerkt worden. Auch die periodische Wiederkehr der Krankheitserscheinungen ist nichts Unmögliches, namentlich unter dem Einfluß der Angst vor einer solchen. Es giebt ja eine ganze Anzahl periodisch repetirender Leiden. Endlich ist wohl als feststehend zu betrachten, daß factisch ein Zusammenhang zwischen Musik und Tanzen einerseits und der Heilung andrerseits bestanden hat und besteht. Wie aber diese Wirkung zu denken ist – das ist noch eine dunkle Sache. Moderne Schriftsteller wollten dieselbe einzig der Musik zuschreiben und letztere gleichsam als ein homöopathisches Heilmittel in die Wissenschaft einzuführen versuchen. Die Musik soll ihrer Anschauung nach das Gift neutralisiren und zersetzen, wie aber dieser Proceß vor sich gehen soll – eine Antwort darauf bleiben uns jene Beobachter schuldig.[1]

Die Heilerfolge der Musik bei der Cholera (Veitstanz), welche einige Autoren als etwas der Wirkung der Tarantella Verwandtes anführen, gehören gar nicht hierher. Bei der Cholera werden die beabsichtigten Bewegungen übertrieben oder verkehrt ausgeführt, der Wille beherrscht die Bewegungen nicht mehr vollständig, und diese fallen deshalb gegen den Willen der Kranken und falsch aus. Die Patienten wurden nun angehalten, nach dem Tacte der Musik zu marschiren und ihre Glieder in regelmäßigem Tempo zu bewegen; dadurch verlor sich nach und nach die übertriebene Wirkung des Willens, und die Bewegungen schnappten nicht mehr auf eine nicht beabsichtigte Sphäre über.

Allem Vermuthen nach war es die gesteigerte psychische und

  1. Man hat in neuester Zeit die Beobachtung gemacht, daß gewisse musikalische Klänge im Stande sind, chemische Zersetzungen zu bewirken. So explodirt z. B. Jodstickstoff, wenn man auf einer Baßgeige einen Ton anstreicht, dessen Schwingungszahl sechszig in der Secunde erreicht, aber nicht übersteigt. In diesem Falle werden offenbar die intramolecularen Schwingungen der chemischen Verbindung durch die Schallschwingungen vergrößert, sodaß sich dadurch die einzelnen Molecüle trennen und der Körper sich unter Explosion zersetzt. Eine analoge Wirkung der Musik auf das Tarantelgift ist nicht anzunehmen, um so weniger, als hier nicht ein gewisser physikalischer Ton von bestimmter Schwingungszahl einwirkt, sondern eine Melodie, also eine beliebige Gruppe auf einander folgender Töne, gleichviel ob höher ob tiefer gesetzt.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 707. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_707.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)