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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

Margret las:

„Seine Hoheit, der Durchlauchtigste Fürst … haben Allergnädigst geruht, aus Anlaß Ihres Allerhöchsten morgigen Krönungstages eine allgemeine Amnestie für alle politischen und Majestäts-Vergehen und -Verbrechen ergehen zu lassen und außerdem noch folgende schwere Verbrecher Allergnädigst mit fernerer Strafe zu verschonen:

1) Josua King, im Jahre 185. vom Schwurgericht Allerhöchst Ihrer Haupt- und Residenzstadt zum Tode verurtheilt und durch des Höchstseligen Fürsten-Vaters Hoheit zu lebenslänglichem Zuchthaus begnadigt –“ etc..

Soweit hatte Kern die Stelle angestrichen. Nun wies er schweigend auf die zweite Seite, wo die officiösen Redactionsartikel zu stehen pflegten.

Margret las auch diese von Kern angestrichene Stelle:

„Unter den in Folge der allgemeinen Amnestie zur Stunde bereits der Freiheit zurückgegebenen Verbrechern befindet sich auch der Mörder Josua King. Bestimmend für seine Begnadigung war, abgesehen von den günstigen Anstaltsberichten über seine Führung, auch die Rücksicht auf ein vorgeschrittenes Brustleiden.“

Frau Margret gab dem Richter das Blatt zurück, blickte denselben fast lächelnd an und fragte:

„Hat diese Nachricht Sie so aufgeregt, Herr Amtsrichter?“

„Wie sollte ich ruhig bleiben bei diesem Stückchen, das unser alter Freund, unser vormaliger Bürgermeister, in Scene gesetzt hat –“

„Es ist ja ein Gnadenact des Fürsten –“

„Jawohl, Frau Margret, aber auf Eingebung des bekannten Rathes im Ministerium! Der Landesherr sollte damit eine Probe seiner fürstlichen Machtvollkommenheit geben, seine Gewalt über Leben, Tod und Freiheit seiner Unterthanen besonders glänzend zeigen. Und durch die Freilassung King’s will unser alter Freund ganz besonders Ihnen und mir Ruhe und Frieden für den Rest unseres Lebens rauben –“

„Aber, Herr Amtsrichter, was schieben Sie dem Rathe für Beweggründe unter!“

„Seine eigenen!“ brummte Kern.

„Und warum soll mir King’s Freiheit Ruhe und Frieden rauben? Warum Ihnen?“

„Sie fragen mich noch, Frau Margret? Haben Sie vergessen, was Sie mir so oft erzählt, wie King vor zwanzig Jahren von Ihnen schied? – ‚Warte, Margret, wenn ich wieder herauskomme!’ sagte er zu Ihnen.“

„Aber Sie hören ja: er hat sich gebessert, bereut –“

„Davon steht nichts in dem Artikel, kann auch nichts darin stehen. Im Gegentheil, ich weiß bestimmt, daß er niemals seine That gestanden, geschweige denn bereut hat.“

„Nun, und wenn er wirklich noch Rachegedanken gegen mich hegen sollte, was kann er mir schaden? Ich höre, begnadigte Verbrecher, die nicht aus dem Lande sind, werden in ihre Heimath gebracht und dort von der Polizei bewacht.“

„Glauben Sie wirklich, das könnte diesen eisernen Willen bändigen? Wenn er jenseits des Aequators ausgesetzt würde, er würde mit der Geradheit einer Kanonenkugel seine Richtung nach dieser Stadt, nach diesem Hause nehmen. Das Bischen Zwangspaß nach seiner Heimath wird ihn nimmermehr daran hindern. Jeden Tag, jede Stunde kann er plötzlich vor Ihnen stehen.“

„Sie könnten Einem fast bange machen, Herr Amtsrichter,“ entgegnete sie. „Aber ich fürchte King nicht. Ich habe ihn nie gefürchtet. Was fürchten Sie für sich von ihm?“

„Ich für mich gar nichts, Frau Margret –“

„Sie sagten doch vorhin, daß auch Ihre Ruhe, Ihr Friede durch King gefährdet sei?“

„Margret,“ sprach Kern mit Wärme und Innigkeit – „Ihr Friede und Ihre Ruhe sind die meinen.“ Er drückte ihr die Hand und blickte ihr freundlich in’s Auge.

„Ich weiß es,“ sagte sie. „Sie sind mir und meinem guten seligen Gustav allezeit der treueste Freund gewesen und meiner Margret wie ein Vater –“

Die Wendung des Gesprächs schien dem Richter nicht ganz zu behagen.

„Es bleiben todt die Todten,
Und nur der Lebendige lebt –“

Dieser Gedanke des Dichters war der seine, aber er sprach ihn nicht aus. „Wo ist denn Ihre Tochter?“ fragte er, um nur etwas zu sagen.

„Am Grabe ihres Vaters –“

Es klopfte an die Thür, laut, hastig. Noch ehe „Herein!“ gerufen wurde, trat ein Telegraphenbote in das Zimmer.

„Eine eilige amtliche Depesche, Herr Amtsrichter,“ sagte er entschuldigend. Der Amtsrichter öffnete sie rasch, durchflog die wenigen Zeilen und erblaßte.

„Es ist gut,“ sagte er dann zum Telegraphenboten, der, einer Antwort gewärtig, noch im Zimmer stand.

„Etwas Unangenehmes?“ fragte die Hirschwirthin theilnehmend, als sie wieder allein waren.

„Eine Meldung, die ich mit Bestimmtheit erwartet habe,“ erwiderte Kern ausweichend mit etwas unsicherer Stimme, „und die mich sofort zu einer amtlichen Expedition außerhalb der Stadt nöthigt. Es könnte sein, daß ich Margret auf meinem Wege träfe. Sie ist nach Ihrem Heimathsdorf gegangen, nicht wahr?“

„Jawohl, Herr Amtsrichter.“

„Wer begleitet sie?“

„Niemand.“

„Mein Weg führt mich gerade durch Ihr Heimathsdorf,“ sagte er mit hörbar bebender Stimme. „Treffe ich Margret, so werde ich Ihnen sagen lassen, ob – ob ich heute zu Tisch kommen kann. Leben Sie wohl, Frau Margret!“

Ein eigenthümlich banger und hastiger Ton lag in diesen Worten, als scheine den Amtsrichter eine viel wichtigere Sorge zu quälen als die, wo er heute sein Mittagsmahl einnehmen werde. Aber Frau Margret hatte in dem Geschäftsdrange dieses Tages nicht Zeit, lange darüber nachzudenken, und kein Mittel, Kern’s Gedanken zu ergründen. Die Ursache seiner Erregung war das amtliche Telegramm, das er in seiner Brusttasche geborgen hatte; es kam von dem Polizeipräsidium der Residenz und lautete. „Auf Ihre telegraphische Anfrage erwidern wir, daß King unsere Stadt nicht passirt, Zwangsroute also verlassen hat. Nach Recherchen, die wir schon in Folge seines gestrigen Ausbleibens telegraphisch bei Zwischenstationen angestellt, ist zu vermuthen, daß er sich Ihrer Stadt zugewendet. Veranlassen Sie sofortige Verhaftung desselben und Zuführung an uns!“

Wer den Amtsrichter über die Straße eilen sah, lobte Meister Tromper’s Scharfblick nachdrücklich. Man meinte, er werde wohl direct zum Küster laufen, um dort das Aufgebot mit der Hirschwirthin gleich richtig zu machen. Aber Kern lief nicht zum Küster, sondern zum Gensd’arme und hieß diesen sein geladenes Gewehr umhängen und ihm folgen.

Der Gensd’arm suchte nach Kräften mit dem Herrn Amtsrichter Schritt zu halten, aber es wurde ihm sehr schwer, namentlich als der Weg bergauf ging; denn Kern lief wie ein Jüngling – und warum? Daß ein großer Spitzbube an einer großen Schurkerei gegen die junge Margret Stephan gehindert werden solle, war Alles, was der Gensd’arm aus dem Herrn Amtsrichter herausbekommen hatte.

„Einem Phantom von Fürstenallmacht zu Liebe,“ hörte er ihn im halblauten Selbstgespräch murmeln, „wird das Zuchthaus seiner gefährlichsten Insassen entleert. Kerle, die eine vergangene Zeit für immer unschädlich zu machen glaubte, werden wieder losgelassen, um das Freudenfest zu zieren.“

Der Gensd’arm fand diese Aeußerungen etwas despectirlich. Schließlich hörte er gar nichts mehr von Kern’s Selbstgespräch. Denn dieser hatte einen großen Vorsprung gewonnen und lief den steilen Hang des Berges hinan wie eine Bachstelze.




Als Margret Stephan im Waldesdunkel, das sie zu ihrem väterlichen Heimathsdorf hinabführte, verschwunden war, richtete der Mensch, den sie längst aus ihrer Gesichtsweite glaubte, sich in seiner ganzen Länge über dem Kornfeld auf, hinter dem er sich ihren Blicken verborgen hatte, und spähte weit umher.

Als er nirgends ein Geräusch oder einen Beobachter bemerkte, suchte er sich eine Stelle aus, von der er, ohne selbst gesehen zu werden, den Waldeingang genau beobachten konnte, in welchem Margret verschwunden war.

Dann überließ er sich seinen Gedanken.

Eine lange, schwere Zeit, die hinter ihm lag, glitt wie ein Augenblick an seiner Erinnerung vorüber.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 691. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_691.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)