Seite:Die Gartenlaube (1879) 685.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

prächtiger Maske vorträgt und in seinem ganzen Benehmen den Schliff des ehemaligen Bühnenkünstlers besserer Kategorie zur Schau zu tragen pflegt – oft ein Lieblingssohn des Unglücks, der wider Willen in diesem trüben Fahrwasser einen zeitweiligen Hafen suchen mußte.

Das Alles ist nebst eingestreuten Orchesterpiècen (nur in kleineren Localen werden die Vorträge durch ein Piano begleitet) von dem überfüllten Hause mit jubelndem Beifall aufgenommen worden; fünf-, sechsmaliger Hervorruf hat die Vorträge der Komiker und insbesondere der Chansonette belohnt und man ist allgemach auf der „Höhe der Situation“ angelangt. Ein Extragericht muß nun das pikante Mal würzen. Ein Ballet! Terpsichore mag sehen, wie sie mit der neuen Schwester im Musenreiche fertig wird.

Eine Pause tritt alsdann ein. Man zündet eine neue Cigarette an oder studirt die Speisekarte. In den Logen nehmen die Damen die Besuche ihrer Freunde entgegen, und der zwanglose Verkehr erleichtert die Anknüpfung von Bekanntschaften, welche so manchem Jüngling den schönen Jugendtraum schrecklich genug zerstört haben. Das ist die dunkelste Schattenseite des Gemäldes. …

Das Concert beginnt auf’s Neue. Die Feierstunde in den Comptoirs ist angebrochen; man merkt es an dem zahlreichen Nachschub der neu angekommenen Besucher, unter denen oft so ein bartlos-rosiges Gesicht mit staunenden Kinderaugen auftaucht, das dem Liede der verführerischen „Loreley“ zu lauschen kam, die seines Lebens kaum ausgelaufenen Kahn – wer weiß wie bald! – untergehen lassen wird in dem Strudel des Sinnenrausches. Hörst du nicht in deinem Herzen wie ein leises Echo aus früheren Tagen die warnende Stimme des Vaters; siehst du nicht in deinem Auge das bekümmerte bleiche Gesicht der längst geschiedenen Mutter?! Ach, diese guten Genien halten hier nicht Stand! Mit Sang und Klang und berückender Lust steigt vor dir eine neue Welt des Genusses auf und lächelnde Dämonen treiben den guten Genius deines Lebens höhnend von deiner Seite. …

Den zweiten Theil des Concertprogramms eröffnet eine sogenannte „Speciatität“, ein künstlerisches Unicum. Die stumpfe Schaulust, welche bunte Eindrücke gedankenlos empfangen will, findet hier vollauf ihre Rechnung, und gar Erstaunliches wird von der zehnten Muse oft in diesem Genre geboten.

Nicht blos die altbekannten Gaukeleien der Taschenspieler und Equilibristen, die uralten Vorführungen optischer Nebelbilder und dummer Pantomimen mit gliederverrenkenden Harlequins, sondern auch allerlei wirklich interessante Sehenswürdigkeiten werden hier producirt.

Und hier kommen wir auf ein Capitel von culturhistorischem Interesse. All die fragwürdigen Gestalten und dunklen Existenzen, die aus der brodelnden Tiefe jedes socialen Großstadtlebens als Blasen an die Oberfläche treiben, mögen dem psychologischen Roman jeweilig recht interessante Modelle liefern, im Uebrigen aber sind die Leistungen dieser leichtfertigen Geschöpfe, welche ihre Menschenwürde der zehnten Muse opferten, sehr überflüssiger Art. Anders verhält es sich dagegen mit jener Classe von „fahrenden Leuten“, die sich zumal in der „Gymnastik“ und in den damit verwandten Künsten produciren. Hier haben wir es mit sogenannten Künstlerfamilien, mit geschlossenen Sippen zu thun, die gar oft einen großen und regelrechten Stammbaum aufweisen können und ihre Kunstfertigkeit von Vater auf Sohn, von Sohn auf Enkel vererben. Interessant ist dabei die Thatsache, daß alle diese Ressorts der rein körperlichen Production, welche Kraft und Gewandtheit erfordern, fast ausschließlich ihre besten Vertreter aus dem englischen und amerikanischen und endlich aus dem deutschen Volke beziehen. Die verweichlichten romanischen Rassen fehlen hier; nur selten sehen wir einen Franzosen die waghalsigen Luftsprünge an dem hoch in der Luft fliegenden Trapez vollführen, selten einen Italiener oder Spanier die prächtigen Turnübungen produciren, welche man in der Kunstsprache des Tingeltangel „die Parterre-Arbeit“ nennt.

Vor drei bis vier Jahrzehnten – in unserer Jugend – sahen wir all diese Leute gar bescheiden und oft recht ärmlich auf freier Wiese oder offenem Marktplatze die Messen und Kirchweihfeste illustriren – „public arbeiten“ heißt dafür der Fachausdruck – und man nannte ihre Productionen „brodlose Künste“; heutzutage präsentiren sie sich in den elegantesten Etablissements, welche die zehnte Muse in unseren Hauptstädten besitzt, und beziehen ebenso große Gagen wie Heldentenor und Primadonna unserer ersten Hofbühnen. In diese Kunstgattung hat sich gleichsam der letzte Rest der gymnastischen Festspiele des Alterthums geflüchtet, welche in das Mittelalter hinübergerettet wurden und bei allen Hoflagern und großen Festlichkeiten des Thrones wie des Altars einen wesentlichen Theil der „Schau-Lustbarkeiten“ bildete. Auch der moderne Circus hat diesen Productionen längst seine Thore geöffnet, und wir gestehen offen unser Behagen an dieser Art Kunstleistungen, soweit sie nicht mit überwiegender Lebensgefährlichkeit verknüpft sind. Es ist ein schönes Schauspiel und wahrlich kein unsittliches, wenn diese herrlich gebauten Athletengestalten mit selbstbewußter Riesenkraft und bewundernswerther Beherrschung jeder Muskel ihre kühnen Productionen ausführen. Es ist die edle Turnkunst in ihrem Zenith, und deren Schaustellung kann, auf die Jugend zumal, nur guten Einfluß üben.

Das Privatleben der meisten dieser Künstler ist ein sehr erfreuliches. Sie halten sich nüchtern, reinlich und anständig, sind sparsam und führen fast alle ein wackeres und glückliches Familienleben. Was man von der „barbarischen Dressur der Kinder“ in diesen Kreisen erzählt, beruht meisthin auf Unkenntniß der wirklichen Verhältnisse. Die Kleinen werden freilich nicht verhätschelt, aber liebende Elternsorge überwacht ihre Uebungen, und das zärtlichste Verhältniß herrscht fast durchgehends in diesen Familienkreisen. Ganz besonders solid, sparsam und wacker in jeder Hinsicht hält sich der amerikanische Künstler und kehrt, wenn das Unglück ihn nicht vor der Zeit dem „Circustod“ weiht, meistens als „rangirter Mann“ in seine Heimath zurück, um dort ein bürgerliches Gewerbe in Ruhe zu treiben.

Die größeren dieser Künstlertruppen (sie beziehen oft zwei- bis dreitausend Mark monatlichen Gehaltes) bilden nicht blos die eigenen Kinder, sondern auch „Lehrlinge“ aus, die anfangs nur freie Kost, später aber, je nach ihren Leistungen, Antheil an der Gage erhalten. Der Häuptling der Truppe hat die vollste Autorität des Familienvaters. Fast täglich wird mehrere Stunden hindurch „geübt“, wobei stets die Aelteren den Jüngeren Unterricht ertheilen, sodaß förmliche Classen in diesen Exercitien entstehen. Die Gymnastik theilt sich in vier Ressorts; zwei davon, und zwar die vornehmsten dem Range nach, haben wir bereits erwähnt: die „Luft-“ und die „Parterre-Arbeit“; das dritte Ressort ist das der „Jongleure“ und das vierte das der „Equilibristen“.

In diesen beiden letztern haben die Japanesen fast unbestritten die erste Stellung. Der „Jongleur“ diente im Mittelalter dem Troubadour zur Begleitung, dessen Orchester er bildete. Im Laufe der Zeiten hat der Jongleur völlig „umgesattelt“; er spielt nicht mehr die Flöte, sondern – Fangball. Seine Objecte sind Messingkugeln, Flaschen, Eier, Teller, und wenn er es bis zur höchsten Stufe bringen will, haarscharfe Messer und glühende Feuerbrände, die er mit erstaunlicher Geschicklichkeit von einer Hand in die andere wirft, indeß sein Körper alle erdenklichen Stellungen annimmt, um die Schwierigkeit zu erhöhen.

Der „Equilibrist“ ist der Künstler des „Gleichgewichts“ und producirt die Balancirkünste entweder an leblosen Sachen oder an sich selbst, indem er auf rollender Kugel, die er mit seinen Füßen dirigirt, allerlei Kunststücke vollführt. Auch das „Drahtseil“, welches für die körperliche Balance das schwierigste Terrain bilden soll, wird dem „Equilibristen“ oftmals zum besonderen Schauplatz seiner Thätigkeit. Die beiden letztgenannten Kategorien setzen jahrelange, mühselige Studien voraus, und es ist für den Anthropologen sicher interessant, daß die Orientalen sowohl durch ihre größere innere Ruhe, wie zugleich durch ihre überlegene äußere Geschmeidigkeit in diesen Künsten die occidentalischen Collegen weitaus übertreffen. Dieser Vorrang wird von den Letzteren sogar dadurch anerkannt, daß die europäischen Jongleure, die sich halbwegs etwas fühlen, diese Kunststücke fast immer in japanesischem Costüm und in japanesischer Gesichtsmaske produciren. In Japan bilden diese Künstler eine eigene Kaste, der man die volle bürgerliche Ehre zuerkennt.

Erst der moderne Tingeltangel hat den Gymnastikern „feste Engagements“ verschafft. Das armselige und unstäte Zigeunerleben, welches diese Leute ehedem führten, hat bei den tüchtigeren Gesellschaften daher fast völlig aufgehört. Eine gute Truppe wird von den Unternehmern immer auf mindestens vier Wochen fest engagirt, oft auf die doppelte Zeit. Dadurch war es für die solideren Elemente dieser Kaste möglich, auch im socialen Leben festere Wurzel zu schlagen, zumal ihre geordneteren Geldverhältnisse

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 685. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_685.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)