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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

Als Präsident so vieler deutscher Parlamente, erst 1848 und 1849, dann des norddeutschen Reichstages und des deutschen Zollparlamentes von 1867 bis 1870, endlich des gesammtdeutschen Reichstages bis 1873 (wo Simson aus Gesundheitsrücksichten und weil er nach so schweren Anstrengungen und Aufregungen sich einmal nach Ruhe sehnte, eine Wiederwahl ablehnte) – in allen diesen hervorragenden Stellungen war Simson nicht sowohl der Erwählte und Vertrauensmann einer einzelnen Partei, als vielmehr – nach Ausweis der Ziffern bei allen den betreffenden Wahlacten – der Vertrauensmann der ganzen großen Versammlung oder doch ihrer überwiegenden Majorität gewesen. In der Handhabung des Präsidentenamtes hatte er seinerseits niemals auch nur die geringste Parteilichkeit zu Gunsten seiner oder zu Ungunsten irgend einer andern Partei, vielmehr jederzeit die strengste Unbefangenheit, Sachlichkeit und Selbstlosigkeit, neben einer seltenen Beherrschung auch der verwickeltsten Angelegenheiten, bethätigt, Eigenschaften, welche für den Vorsitzenden eines Gerichts, zumal eines so hohen, von ausschlaggebendster Wichtigkeit sind.

Zu diesen Vorzügen eines, man könnte sagen geborenen Präsidenten bringt Simson noch einen weitern, ebenfalls nicht zu unterschätzenden mit: das Talent einer würdigen Repräsentation – nicht jener banalen, welche in der peinlichen Beobachtung äußerlicher Formen und eines steifen Ceremoniells die Würde des Amtes und der Person sucht, sondern jener edleren und wesenhafteren, welche auch die blos äußerlichen Formen adelt und mit einem würdigen Inhalt erfüllt. Als Redner hat Simson etwas von der attischen Beredsamkeit jener alten Classiker, die für ihn, den so vielseitig Gebildeten, von früh an, neben unsern großen vaterländischen Dichtern ein Hauptgegenstand eindringenden und feinsinnigen Studiums gewesen und jederzeit geblieben sind; aber er ist kein blos „akademischer“ Redner; er wendet sich nicht blos an den Verstand und Geschmack, sondern auch an das Herz und Gemüth des Hörers; er versteht es, große, allgemeine Gesichtspunkte mit kurzen, treffenden Worten zur Anschauung und zur Geltung zu bringen. Ihm stehen für sein schweres und verantwortungsvolles Amt die wissenschaftlichen Früchte einer fast dreißigjährigen Lehrthätigkeit auf dem juristischen Katheder und die praktischen Erfahrungen einer fünfundvierzigjährigen richterlichen Wirksamkeit zur Seite. Trotz seines vorgerückten Alters – er wurde am 10. November 1810 zu Königsberg in Preußen geboren – ist Simson noch rüstig an Körper, von beinahe jugendlicher Frische und Beweglichkeit des Geistes. So vereinigt sich Alles in ihm, um seine Erhebung an die Spitze des neuen Reichsgerichts als einen glückliche Griff und als eine gute Vorbedeutung für die Thätigkeit und die Volksthümlichkeit des demnächst in’s Leben tretenden nationalen Gerichtshofs erscheinen zu lassen.

Und so können wir nach all dem Gesagten diesem höchsten deutschen Gerichtshofe bei seiner nun bevorstehenden Eröffnung mit vollem Vertrauen in jeder Beziehung unsere wärmsten Segenswünsche darbringen.




Gerechtigkeit in Rom.


Erinnerungen eines einstigen Schlüsselsoldaten.


1.


Es war in der zweite Hälfte des Jahres 186*, als ich als Freiwilliger in die päpstliche Armee eintrat. Wenn ich von meinem heutigen geläuterten Standpunkt in jene Zeit zurückblicke und mich mir vergegenwärtige als begeisterten Kämpfer für das Pontificat, für dasselbe Princip, dem ich heute in jeder Form entgegentrete, so erscheint mir Alles fast wie ein Traum. Und doch hatte meine damalige Denk- und Handlungsweise nichts Wunderbares, Unverständliches an sich.

Aus gutkatholischer Familie stammend, wurde ich, noch nicht neun Jahre alt, in’s Kloster zur Erziehung geschickt. Du lieber Himmel, welch eine Erziehung! Gebet, Gottesdienst, Beichte, Predigten, Vorträge, geistliche Exercitien in Kirche und Haus, in der Schule aber Religion nicht nur in den zahlreichen Religionsstunden, sondern auch in allen anderen Lehrfächern, bei den Sprachübungen und vor allem in der Geschichte! In unseren Frei- und Unterhaltungsstunden aber leisteten uns ultramontane Journale, Bücher von unbezweifelter Religiosität und unsere mönchischen Erzieher Gesellschaft. Welche Lebensanschauungen wir aus solchen Quellen gewinnen mußten, braucht nicht erst erläutert zu werden, und ebenso wenig kann es Wunder nehmen, daß ein guter Theil von uns Jungen früher oder später Glaubensschwärmer wurde. „Stellvertreter Gottes“, Beglücker der Menschheit, „geistlich“ zu werden, war für die meisten von uns das höchste Ideal, und viele sind in der That „geistlich“ geworden.

Dazu hatte nun ich, ein kraftstrotzender, wilder Junge, keine Lust; gleich den meisten männlichen Mitgliedern meiner Familie wollte ich Soldat werden. Was lag da näher, als jenes moderne geistliche Ritterthum der päpstlichen Armee, das uns von den sonst dem Kriegshandwerk wenig zugethanen Mönchen als das Musterbild des Soldatenthums gepriesen wurde! Bücher, in denen die Heldenthaten und das gottgefällige Leben römischer Zuaven geschildert waren, gehörten zu meiner Lieblingslectüre. Und als nach der großen Retirade von Castelfidardo einmal ein solcher Papstritter in abgeschabter Uniform, waffenlos „fechtend“, in unserem Kloster erschien, von den Patres mit Auszeichnung behandelt, an den Ehrenplatz des Tisches gesetzt wurde und von der ewigen Stadt und ihren Herrlichkeiten erzählte, da nahm ich mir fest vor, nichts anderes als ein Held zu werden.

Als ich dann aus den Klostermauern in das Weltleben hinaustrat und dieses seinen tausendfältigen Einfluß durch Familie, Beruf, Freundschaft, Vergnügen, Erfahrung geltend machte, da fingen die alten Phantasiebilder freilich allmählich zu verblassen an. Mein Geist empfing zahllose neue, bisher ungeahnte und mit dem Anerzogenen in Widerspruch stehende Eindrücke; der Zweifel, der Vater aller Erkenntniß, begann – wenn auch erst schüchtern und leise – sein Werk, und wäre diesem natürlichen Entwickelungsgange nichts hindernd in den Weg getreten, so wäre mir wohl mancher spätere Kampf, manches Opfer erspart geblieben. Aber die in das bildsame Gemüth der Jugend gelegten Keime sitzen gar tief und fest, und anerzogene Grundanschauungen können nicht auf einmal beseitigt werden, sondern nur durch lange, unausgesetzte und consequente Arbeit, für deren glücklichen Erfolg die Beseitigung aller der Einflüsse, welche das Unkraut erhalten und in seinem Wachsthum fördern, die wesentliche Voraussetzung ist. Wie viele Mittel hat aber nicht die Kirche, und hatte sie noch viel mehr damals, ihre Zöglinge auch selbst nach den Lehrjahren in ihre magischen Cirkel zu bannen und sie durch kirchliche und weltliche Mittel, vor allem durch ihr schlau organisirtes Vereinswesen zu beeinflussen!

In jener Zeit war es besonders der Pius-Verein, welcher es sich zur besonderen Aufgabe machte, Gelder zur Anwerbung und zum Unterhalt päpstlicher Soldaten zu sammeln, und der, wenn das Werbewesen nicht so recht vorwärts gehen wollte, alle Mittel spielen ließ, um junge Leute zum Eintritt in die römische Armee zu bewegen – dem gesetzlichen Verbot der Anwerbung zum Trotz. Auch die ultramontane Presse wurde natürlich zu diesem Zwecke benutzt und in ihr die Verdienstlichkeit und der Glanz des päpstlichen Dienstes mit lebhaften Farben geschildert, was selbstverständlich Alles nicht ohne Wirkung auf mich blieb, indessen mich doch kaum zur Zerreißung aller neuen Bande vermocht hätte, wäre nicht noch etwas Besonderes hinzugekommen. In dem Gesellenvereine zu M*, in dem ich mich eines Abends auf Einladung eingefunden hatte, trat, durch den Präses eingeführt, ein römischer Officier in voller Uniform auf und schilderte in bewegten Worten die Nothlage des heiligen Vaters, der von allen Seiten von den Feinden der Kirche bedrängt werde und sich deshalb an seine waffenfähigen Söhne um Hülfe wende. Die Pflicht, Rom zu Hülfe zu eilen, die Verdienstlichkeit und den Ruhm einer solchen Handlung, dazu den Zauber der Natur und Kunst des classischen Landes, die Vorzüge und die Ehren des Dienstes – all das malte der kluge Römer in lebhaftesten Farben zu einem verführerischen Gesammtbilde aus.

Meine Phantasie war auf’s Tiefste erregt, trunken; all die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 664. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_664.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)