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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

auch gegen solche Personen zu eröffnen, welche sonst leicht im Gefühl ihrer Unantastbarkeit sich Ueberschreitungen ihrer Amtsbefugnisse oder Vernachlässigungen ihrer Amtspflichten könnten zu Schulden kommen lassen.

Für die Unabhängigkeit dieses höchsten deutschen Gerichtshofes sind die möglichst größten Garantieen geschaffen. Die Ernennung sämmtlicher Mitglieder des Reichsgerichts erfolgt auf Vorschlag des Bundesrathes durch den Kaiser. Zum Mitgliede des Reichsgerichts kann nur ernannt werden, wer die Fähigkeit zum Richteramte in einem Bundesstaate erlangt hat und mindestens fünfunddreißig Jahre alt ist. Nur die solchergestalt ernannten und mit allen im Gesetz vorgeschriebenen Erfordernissen versehenen ordentlichen Mitglieder dürfen an den Entscheidungen des Gerichts Theil nehmen; die Zuziehung von Hülfsrichtern wird vom Gesetze schlechthin für unzulässig erklärt. Letzteres geschieht wohl im Hinblick auf die Erfahrungen, die man in Preußen während der Reactionsperiode von 1850 bis 1858 gemacht hat. Auch rücksichtlich der Entsetzung sowie der unfreiwilligen Versetzung eines Mitgliedes in Ruhestand ist jede Willkür und jeder Eingriff der Regierung ausgeschlossen: die eine wie die andere kann nur durch einen Plenarbeschluß des gesammten Reichsgerichts ausgesprochen werden. Eine unfreiwillige Versetzung auf eine andere Stelle ist ohnehin bei den Mitgliedern dieses alleinigen obersten Gerichtshofs im Reiche der Natur der Sache nach ausgeschlossen, würde auch schon nach den allgemeinen Bestimmungen des Gerichtsverfassungsgesetzes ebenfalls nur durch richterliche Entscheidung verfügt werden können.

Ebenso sorgfältig ist vorgesehen, daß sowohl bei der Vertheilung der Geschäfte an die verschiedenen Kammern oder Senate des Reichsgerichts wie rücksichtlich der Zutheilung der einzelnen Mitglieder an letztere jede Möglichkeit einer Willkür oder Parteilichkeit ausgeschlossen bleibe. Zu dem Ende wird das Präsidium, welchem die Verfügung über diese Vertheilung zusteht, nach ausdrücklicher Bestimmung des Gesetzes hierbei verstärkt durch die vier ältesten Mitglieder des Gerichts.

Wie für vollste Unparteilichkeit, so ist auch für möglichste Einheitlichkeit und Gleichartigkeit der Entscheidungen des Reichsgerichts in dem Gerichtsverfassungsgesetze selbst Fürsorge getroffen worden. Glaubt ein Civil- oder ein Strafsenat in einer Rechtsfrage von einer früheren reichsgerichtlichen Entscheidung abweichen zu müssen, so hat derselbe die Verhandlung und Entscheidung der betreffenden Sache vor die vereinigten Civil-, beziehungsweise Strafsenate zu verweisen. Bei Entscheidungen der vereinigten Senate sowie des Plenums ist die Anwesenheit von mindestens zwei Dritttheilen aller Mitglieder erforderlich. Der Geschäftsgang beim Reichsgerichte wird durch eine Geschäftsordnung geregelt, welche das Plenum feststellt und dem Bundesrathe zur Bestätigung unterbreitet.

So sind im Gesetze alle nöthigen Bestimmungen getroffen, um dem neuen Gerichtshofe und seinen Entscheidungen ein möglichst großes und rückhaltloses Vertrauen von vornherein zuzuwenden. Die Bekräftigung und Befestigung dieses Vertrauens steht zu erwarten von der Wirksamkeit des neuen Reichsgerichts selbst, zunächst aber von dem Ansehen der in dasselbe ernannten Persönlichkeiten.

Bei dieser ersten Zusammensetzung des Reichsgerichts für ganz Deutschland lag es nahe, daß in vorderster Linie theils die Mitglieder des bisherigen Reichsoberhandelsgerichts, theils diejenigen der höchsten Gerichtshöfe der Einzelstaaten und hier wieder überwiegend – entsprechend dem numerischen Verhältniß der Bevölkerung – die des höchsten Gerichtshofes der preußischen Monarchie, des Obertribunals zu Berlin, berücksichtigt wurden. So gehen denn aus dem Reichsoberhandelsgericht 18 Räthe in das Reichsgericht über, aus dem preußischen Obertribunal 23; die übrigen 19 von den im Ganzen 60 Mitgliedern des Reichsgerichts sind dem höheren richterlichen oder zum Richteramt befähigten Personal der einzelnen Bundesstaaten entnommen worden, sodaß eine möglichst gleichmäßige und gerechte Betheiligung aller Einzelstaaten an der Besetzung des obersten deutschen Gerichtshofes hergestellt erscheint.* Auch in der Wahl der Senatspräsidenten ward derselbe Grundsatz beobachtet. Zu diesen Stellen wurden ernannt: zwei bisherige Vicepräsidenten des Reichsoberhandelsgerichts, der Mecklenburger Dr. Drechsler und der Baier Dr. Hocheder, der Vicepräsident des preußischen Obertribunals Dr. Henrici, die beiden ersten Präsidenten der preußischen Appellationsgerichte zu Magdeburg und zu Marienwerder, Ukert und Drenkmann, der Director des württembergischen Obertribunals Dr. von Beyerle, der großherzoglich badische Ministerialrath im Justizministerium Dr. Birgner. Das Königreich Sachsen hat von dem ihm angebotenen Vorschlag zu einer Präsidentenstelle keinen Gebrauch gemacht.

Von ganz besonderer Wichtigkeit war natürlich die Wahl des ersten Präsidenten, denn in ihm verkörpert sich gewissermaßen der ganze große Gerichtshof; sein Name, seine Vergangenheit, der Ruf, der ihm vorausgeht, kann, ja muß beinahe der öffentlichen Meinung in ganz Deutschland wie eine Art von Programm der Wirksamkeit des Gerichts, an dessen Spitze er gestellt wird, erscheinen.

Es ist schon oben angedeutet worden, welche hochwichtige anderweite Thätigkeit dem bisherigen Präsidenten des Reichsoberhandelsgerichts, Dr. Pape, zugetheilt ist. Diese Thätigkeit ließ dessen Uebergang in die gegen seine bisherige noch ungleich arbeitvollere, jede andere Beschäftigung neben ihr ausschließende Stellung eines Präsidenten des Reichsgerichts nicht wohl möglich erscheinen. Sah man aber von dieser nächstgegebenen Anknüpfung an das schon Bestehende ab, so trat doppelt bedeutsam die Persönlichkeit des zu Ernennenden in den Vordergrund. Der Vorschlag für die Besetzung der ersten Präsidentenstelle stand dem Kaiser persönlich zu, während für die anderen Präsidentenstellen die verschiedenen Bundesregierungen Vorschläge machten. Kaiser Wilhelm und sein verantwortlicher Berather, der Reichskanzler, waren, wie zuverlässig verlautet, in ihren Ansichten wegen Bezeichnung eines Candidaten für diesen höchsten richterlichen Posten im Reiche sofort und zweifellos einig gewesen. Es war der bisherige erste Präsident des preußischen Appellationsgerichts zu Frankfurt an der Oder[WS 1], Dr. Simson, den Beide gleichmäßig in’s Auge gefaßt hatten, ein Mann, der, neben seiner langjährigen und ausgezeichneten juristischen Thätigkeit sowohl als Praktiker wie als Theoretiker, auch noch in ganz Deutschland und selbst im Auslande ehrenvollst bekannt ist durch seine hervorragende Wirksamkeit als Präsident aller großen nationalen Vertretungskörper in Deutschland vom Frankfurter Parlamente 1848 an bis zu dem deutschen Reichstag von 1873.

Trug daher Simson’s Wahl zum Präsidenten des Reichsgerichts insofern einen gewissen politischen Charakter, als sie bekundete, daß der Kaiser und sein Kanzler mit den Traditionen eines gemäßigten Liberalismus, denen sie seit Begründung des norddeutschen Bundes gefolgt, auch jetzt nicht brechen, daß sie nicht etwa das Reichsgericht außerhalb der constitutionellen Einrichtungen des Reiches stellen wollten, so war es anderseits doch kein einseitiger oder gar schroffer Parteicharakter, der sich an Simson’s Person knüpfte.


* Die 18 Reichsoberhandelsgerichtsräthe sind die Herren Dr. von Hahn, Dr. von Vangerow, Dr. Wernz, Dr. Gallenkamp, Dr. Hoffmann, Dr. Fleischauer, Dr. Boisselier, Dr. Puchelt, Langerhans, Hullmann, Dr. Wiener, Krüger, Buff, Dr. von Meibom, Dr. Dreyer, Dr. Hambrook, Wittmack, Maßmann; die 23 Mitglieder aus dem preußischen Obertribunal die Herren Dr. Bähr, Friedrich, von Specht, Peterssen, Plathner, Henecke, Hartmann, Werner, Dr. von Grävenitz, Lesser, Rappold, Thewalt, Welst, Schwarz, Schlomka, Kirchhoff, von Forcade de Biaix, Meyer, Wulfert, Rassow, Stechow, Dähnhardt, Rottels; dazu kommen noch die Herren Schüler, Oberstaatsanwalt beim preußischen Obertribunal, Möli, Vicepräsident des preußischen Appellationsgerichts zu Kassel, Cuncumus, zweiter Staatsanwalt beim obersten baierischen Gerichtshofe zu München, Dürr, Rath bei demselben Gericht, Dr. Hauser, baierischer Appellationsgerichtsrath, Dr. Wenck, Vicepräsident des sächsischen Appellationsgerichts zu Leipzig, Rüger, sächsischer Oberappellationsgerichtsrath, Petsch, Director des sächsischen Bezirksgerichts zu Leipzig, von Gmelin, von Streich, von Geß, Räthe beim württembergischen Obertribunal zu Stuttgart, Wielandt, badischer Oberhofgerichtsrath, Dr. von Buri, hessischer Staatsanwalt, Dr. Spieß, braunschweigischer Obergerichtsrath, Dr. Agricola, Rath am Gesammt-Oberappellationsgericht zu Jena, Dr. Bolze, anhaltinischer Oberlandesgerichtsrath, Dr. Schlesinger, Rath am hanseatischen Oberappellationsgericht zu Lübeck, Derscheid, Präsident des kaiserlichen Landesgerichts zu Colmar. Als sechszigstes Mitglied trat, nachdem der zuerst ernannte sächsische Reichsoberhandelsgerichtsrath Dr. Schilling gestorben, an dessen Stelle der sächsische Oberappellationsgerichtsrath Scheele ein. Zum Oberreichsanwalt ward bestellt der preußische Generalprocurator beim Appellationsgerichtshof zu Köln, Dr. von Seckendorff, zu Rechtsanwälten der Oberstaatsanwalt beim preußischen Obertribunal von Wolff, der kaiserliche Staatsanwalt aus dem Reichsoberhandelsgericht Hofinger und der königlich baierische Rechtsanwalt bei dem Bezirksgericht München links der Isar Stenglein.


  1. Vorlage: „Frankfurt a. M.“, siehe Berichtigung
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 663. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_663.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)