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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

No. 40. 1879.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 1 ½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig· – In Heften à 50 Pfennig.


Felix.
Novelle von Karl Theodor Schultz.
1.

Herr Felix von Pranten, seit Kurzem wohlbestallter Hülfsarzt an der Augenklinik des Doctor Pflummern in Cleebronn, saß heute ganz wider seine Gewohnheit nachdenklich am Fenster. Neben ihm lag zwar Ruete’s Lehrbuch der Ophthalmologie, augenscheinlich aber – darauf deutete die unberührte Lage Staub auf dem Deckel hin – hatte er das Buch noch nicht geöffnet. Die an dem jungen Mann befremdende Stimmung konnte also nur ein Artikel der Zeitung hervorgerufen haben, die er in der Hand hielt. Plötzlich aufspringend, maß er das Zimmer mit großen Schritten. Nach ein paar Rundgängen trat er an das Fenster zurück, hob den guten, zu Fall gekommenen Ruete auf und nahm die Zeitung von Neuem vor.

Halblaut las er folgende Anzeige: Wer geneigt wäre, einer Blinden – wöchentlich an drei Nachmittagen – vorzulesen, wolle sich Frauengasse Nr. 18 melden! Gutes, verständnißvolles Lesen ist Bedingung.

„Frauengasse 18 – 18!“ wiederholte er, „das ist sie.“

Wieder begann das ruhelose Wandern. Vielerlei Gedanken, die sich bald zu Plänen entwickelten, kreuzten durch Pranten’s Kopf. Vor einigen Tagen war nämlich eine junge Dame von auffallender, lichter Schönheit in der Klinik gewesen: sie hatte ihn sofort auf’s Lebhafteste gefesselt, und um so tiefer, als sich bei der Untersuchung herausgestellt, daß die Art ihres grauen Staares selbst bei einer glücklichen Operation keine sichere Aussicht auf günstigen Erfolg bot. Vielleicht ewige Blindheit für dieses scheinbar von allen Göttern begnadigte Geschöpf! Wie sehr Pranten auch an Schweres in der Beziehung gewöhnt war, so viel Schönheit und solch unsägliches Weh gehörte einmal nicht zu einander. Mit einem Ausruf der Ungeduld, der beinahe wie etwas verschlucktes Böses klang, schien der junge Mann endlich in sich einig geworden zu sein und eilte nach dem Schlafzimmer, um seinen Anzug zu wechseln.

Kurze Zeit darauf wurde – gerade nicht sanft – in Nr. 18 der Frauengasse die Glocke gezogen, und Pranten, in tadelloser Besuchstoilette (auf die er gern hielt), übergab seine Karte. Während das Mädchen ihn anmeldete, war er schwach genug, sein üppiges Haar vor dem im Hausflur hängenden Spiegel durch geniale Bürstenstriche aufzulocken. Freilich bildete dieses Haar eigentlich seinen einzigen äußeren Schmuck; besonders war an dem großen Kopfe, welcher selbst der hochaufgeschossenen Figur gegenüber allzu stark hervortrat, alles bis auf das Haar häßlich. Daher führte wohl auch der fast traurige Blick, mit dem Pranten sich in die Augen sah, unverwandt, als lohnte es überhaupt nicht, die andern Theile seines Gesichts, die eingebogene Nase, diesen unschönen Mund und das vierkantige Kinn, noch irgend welcher Aufmerksamkeit zu würdigen. Er kannte da wohl seit lange alle Züge, und so häufig er sie auch zergliederte, niemals hatte ihre Häßlichkeit in milderem Licht erscheinen wollen.

Mit einem Seufzer wandte sich Pranten der Treppe zu und folgte dem inzwischen wiedergekehrten Mädchen nach einem Altan, der auf der Rückseite des Hauses herausgebaut war. Den kleinen Raum nahm beinahe vollständig eine Art von Laube ein, die auf’s Einfachste durch Heraufziehen von wildem Wein hergestellt war. Dennoch hatte die Laube etwas luftig-phantastisch Zierliches: die Capitäle der schlanken Säulen, auf welchen das Dach ruhte, waren von feiner alter Steinhauerarbeit und traten überall mit ihren Akanthus- oder Palmenblättern gefällig aus dem Geranke des Weines hervor, das sie nur wie Festons umflatterte.

Pranten erkannte auf den ersten Blick in der jüngeren der beiden Damen, vor welche das Mädchen eben eine Schale mit Erdbeeren setzte, die Blinde, welche ihm in der Klinik aufgefallen war.

Mit einer stummen Frage in dem schmalen, runzelvollen Gesicht trat ihm die ältere Dame entgegen; Pranten bat, sich nicht stören zu lassen, nahm rasch Platz und fuhr in seiner lebhaften Weise fort:

„Um jeder Unklarheit zuvorzukommen – Ihre Annonce im Tageblatt hat mich hergeführt.“

Die ältere Dame lehnte sich mit einem Zuge beginnender Reserve in ihren Sessel zurück und musterte den Ankömmling, der sich für solche Stellung sehr ungenirt zu benehmen schien, die Blinde aber, welche nur auf sein klangvolles, sonores Organ gelauscht hatte, rief von Freude:

„O, Sie wollten das wirklich übernehmen?“

„Wenn wir uns über die Stunden einigen können!“ antwortete Pranten, ohne durch die abweisende Kälte seiner stummen Nachbarin im Mindesten beunruhigt zu werden.

„Meiner Cousine, Frau Assessor Ballingen“ – die einander Vorgestellten verneigten sich auf’s Förmlichste – „wird ein stundenlanges Lesen schwer,“ erwiderte die Blinde; „so kamen wir auf den Gedanken, nach Hülfe auszuschauen. Wie freundlich, wenn sich unser Wunsch, kaum entstanden, schon erfüllen sollte!“

„Du bist zu sanguinisch,“ bemerkte die Frau Assessor mit leichtem Hüsteln, „wir sind ja über die Bedingungen des Herrn von –“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 657. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_657.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)