Seite:Die Gartenlaube (1879) 648.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

Eine wirkliche Befriedigung giebt es für thatkräftige, bedeutender angelegte Naturen bei solchem Thun nicht. Je reifer sie werden, desto mehr drängt es sie, ihre eigenen Bahnen zu verfolgen, ihre individuelle Ansichten und Grundsätze zu verwerthen. Die Stimme in ihrem Innern wird immer mächtiger: „Ich will durch mein Handeln erproben, ob ich durch meines Wesens Kraft mir Hochachtung und ehrende Liebe erringen kann, ich will nicht über die Erde gehen, ohne segensreiche Spuren meines Waltens zurückzulassen.“

Solche Gedanken haben sicherlich auch die Seele der wackern Frau bewegt – Miß Octavia Hill – von deren Thun ich hier berichten möchte, um dabei die innige, dringende Bitte an deutsche Frauen auszusprechen: Folget ihr nach! Hier ist das schönste Arbeitsfeld gefunden, das ein edles, wirkensdurstiges Frauenherz nur ersehnen kann.

Miß Octavia Hill hat eine Schilderung dessen, was sie unternommen, sowie der Resultate ihres Schaffens in Aufsätzen niedergelegt, welche in der „Fortnightly Review“, in „Macmillan’s Magazine“ und anderen Zeitschriften veröffentlicht worden sind. Die leider so früh dahingeschiedene Großherzogin Alice von Hessen ließ diese Berichte in’s Deutsche übersetzen und hat dem kleinen Werke eine Vorrede beigefügt, aus welcher ich das Bemerkenswertheste jetzt folgen lasse:

„Dieses kleine Buch,“ heißt es dort, „enthält die Geschichte des Wirkens einer edlen Frau, welche mir vergönnt war bei meinem letzten Besuch in meiner englischen Heimath kennen zu lernen und in ihrer Thätigkeit zu beobachten.

Der tiefe Eindruck, den ich von ihrer selbstlosen, thatkräftigen und reichgesegneten Liebe mit hinwegnahm, erfüllte mich mit dem Wunsche, daß uns, die wir ähnliche Zwecke und, wie ich hoffe, in demselben Geist, verfolgen, das Anschauen eines so edlen Beispieles in unserer eigenen Arbeit ermuthigen und stärken möge.

Systeme mögen, wie Miß Hill richtig bemerkt, werthvoll, ja nöthig sein, aber in den meisten Fällen und jedenfalls in diesem sind sie wie eine Maschine: nutzlos oder schlimmer als das, wenn das beseelende Element der Persönlichkeit in den Plan ihrer Wirkung nicht aufgenommen ist.

Das Buch zeigt, wie Miß Hill mit ebenso viel richtigem Tact wie aufopfernder Liebe, durch Geduld und standhaftes Beharren bei den einmal gewonnenen Grundsätzen, Freundin ihrer Armen zu werden verstand, ohne deren Liebe durch Almosen zu erkaufen, und ihnen unendliches Gute that vor Allem durch Aufschließung und Entwickelung ihrer eigenen moralischen Hülfsquellen. Solches Streben wird immer von Schwierigkeiten und Enttäuschungen begleitet sein. Wir selber haben ja dazu beigetragen, die Armen zu demoralisiren, indem wir in den Tag hinein Unterstützungen austheilten, ihre Selbstachtung, ihren Willen und ihre Fähigkeit zur Selbsthülfe untergruben. Aber es ist Zeit, dem ein Ende zu machen und als den Hauptgesichtspunkt einer verständigen und wahrhaft liebevollen Armenpflege den erziehlichen zu erkennen.“ –

Soweit die Vorrede der Großherzogin Alice! Zur richtigen Würdigung des menschenfreundlichen Wirkens der Miß Hill möge das Folgende gesagt sein.

In London sind, wie in den großen Städten unseres Vaterlandes, Wohnungen für die Arbeiterclasse knapp und verhältnißmäßig theuer. Miß Hill hatte sich längere Zeit mit der sehr richtigen Idee getragen, daß ein Hausbesitzer, welcher gesunde, saubere Quartiere an Arbeiter und andere sich um das tägliche Brod mühende Leute zu billigen Preisen vermiethet, einen großen Einfluß auf diese gewinnen müsse. Sie beschloß, sich in Besitz solcher Häuser zu setzen und alle ihre Kraft aufzuwenden, um die Bewohner derselben zu Ordnung, Sauberkeit und Pünktlichkeit in Erfüllung ihrer Pflichten zu erziehen und dadurch auch deren geistige Erhebung zu bewerkstelligen.

Wie Miß Hill dies erfüllt, will ich, zumeist mit ihren eigenen Worten, hier anführen; ich habe dazu aus mehr als hundert Seiten das Nothwendigste zusammengestellt.

„Vor etwa vier Jahren,“ sagt unsere englische Menschenfreundin, „gelangte ich in den Besitz[1] dreier Häuser in einer der schlimmsten Gassen von Marylebone. Sechs weitere Häuser wurden nach und nach dazu gekauft. Alle waren mit Insassen überfüllt. Das Erste, was geschehen mußte, war, sie in die Verfassung zu setzen, in welcher sie mit Anstand vermietet werden konnten. Die Häuser waren in einem erbärmlichen Zustande. Der Bewurf fiel von den Wänden herunter; auf einer Treppe stand ein Eimer, um den Regen aufzufangen, der durch das Dach hereinfiel. Alle Treppen entbehrten der Geländer, die von den Miethsleuten als Brennholz verbraucht worden waren. Das Pflaster in den Hinterhöfen war aufgebrochen; große Pfützen hatten sich darin gebildet, aus denen die Feuchtigkeit an den Außenmauern hinaufstieg. Sobald ich das Besitzthum übernommen hatte, erhielt jede Familie Gelegenheit sich zu verbessern, indem denjenigen, welche nicht zahlen wollten oder ein offenkundig unmoralisches Leben führten, gekündigt wurde. Die Zimmer, die sie freiließen, wurden gereinigt; andere Miethsleute, die Zeichen von Besserung an den Tag legten, rückten in dieselben ein, und auf diese Weise ergab sich die Möglichkeit, ein Zimmer nach dem anderen ausbessern und anstreichen zu lassen. Alle altersschwarzen Schichten von Papier und Lappen wurden von den Fenstern gerissen und Glas eingesetzt – von 192 Scheiben waren nur 8 unzerbrochen; Hof und Fußsteig wurden gepflastert.“

Es gilt bei Miß Hill als Regel, daß unter ungefährer Beibehaltung der alten Zimmerpreise den Miethern mit zahlreicher Familie zwei Zimmer abgelassen werden, für weit geringeren Preis, als für dieselben Zimmer in Einzelmiethe verlangt wird. Keinem Miether wird eine ungenügende Räumlichkeit überlassen, keine Aftermiethe wird gestattet. Die Reinhaltung von Treppen und Gängen wird älteren Mädchen gegen Bezahlung übertragen, wodurch sie sich an Reinlichkeit gewöhnen und die Insassen der Zimmer zu gleicher Sauberkeit anspornen.

Miß Hill bemerkt mit Recht, daß einerseits die Erfüllung der wechselseitigen Pflichten zwischen der Hauswirthin und den Miethsleuten, andererseits aber auch die aus genauer Bekanntschaft und einem gewissen Gefühl von Abhängigkeit und Schutz entspringende persönliche Freundschaft zur Erreichung ihrer menschenfreundlichen Absichten Hand in Hand gehen mußten. Durch ein solches Verhältniß wurde Miß Hill befähigt, „die wirkliche Lage der Familien zu erkennen, ihnen bei Zeiten die unvermeidliche Folge dieser oder jener Gewohnheiten vorauszusagen, auf Maßregeln zu dringen, welche die Erziehung der Kinder und ihre Selbstständigkeit im Leben sichern, die Keime der Energie lebendig zu erhalten, weichere Regungen des Gemüthes zu wecken, jede Hülfe entschlossen zu versagen, die nicht Selbsthülfe hervorruft, den kleinsten Schimmer von Selbstachtung liebevoll zu pflegen und schließlich mit starker Hülfe nahe zu sein, wenn die Stunde der Prüfung schwer und unerwartet erscheinen sollte, und diese Hülfe zu leisten mit der Hand und dem Herzen eines wirklichen alten Freundes, der noch in ganz anderem Verhältnisse zu dem Bedrängten steht, als in dem des Almosengebens, und der dadurch das Recht gewonnen hat, diese niedrigere Art der Hülfe auch denen zu bieten, die am meisten auf Unabhängigkeit halten.“

Die Miethsleute der Miß Hill gehörten zu den eigentlichen Armen. Aber außer solchen, die nicht den Willen zum Erwerb hatten, haben sie sich Alle im Laufe der vier Jahre, während welcher sie unter der Obhut der Miß standen, zu bedeutend besseren Verhältnissen emporgerungen.

Was den ordentlichen Miethsleuten die meisten Schwierigkeiten beim Zahlen bereitete, das waren die Schwankungen im Verdienste. Miß Hill half ihnen auf zweierlei Art: Erstens hielt sie dieselben an, zurückzulegen – was sie mit Ausdauer thaten, sodaß jeder Herbst sie mit einem kleinen angesammelten Capitale ausgerüstet fand, von dem sie zehren konnten, so lange die Arbeit während der „todten Jahreszeit“ nachließ.

Zweitens that sie, was sie konnte, um ihren Miethsleuten während flauer Zeitläufte Beschäftigung zu schaffen. Sie sparte sorgfältig jede Arbeit, die sie thun konnten, für solche Zeiten auf.

Erspartes Geld sammelte sie persönlich ein und verließ sich nicht

  1. Herr Ruskin, ein Miß Hill befreundeter Herr, gab derselben 3000 Pfund Sterling (etwa 60,000 Mark) zum Ankauf dreier Häuser, welche neben dem ihr gehörenden Grundstück lagen und welche 30 bis 40 Arbeiterwohnungen enthielten. Miß Hill vermiethete, um den Armen mehr gute Luft zu schaffen, zwei Zimmer für 4½ Schillinge (4½ Mark) wöchentlich, während man an anderen Orten 4 Schillinge für ein Zimmer zahlen mußte. Als die segensvollen Resultate, welche Miß Hill erreicht, offenbar vor Augen lagen, kaufte die Gräfin Ducie sechs Häuser, eine andere Dame fünf und Beide stellten sie unter die Obhut von Miß Hill, welche nun unter den ihr befreundeten Damen sich Gehülfinnen erwählte.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 648. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_648.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)