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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

„José ist zehn Jahre alt.“

„Mein Gott, das muß ich immer wieder hören, damit ich mir ja recht einbilde, ich sei eine alte Frau. Dazu qualificire ich mich aber nicht, absolut nicht, und wenn Sie es noch so eifrig wünschen. Ich bin jung und mädchenhaft, mag zehnmal solch ein langer, altkluger Bengel neben mir stehen und ,Mama’ zu mir sagen. Und in fünf Wochen tanze ich in Berlin, allen spießbürgerlichen Anschauungen, aller doctorlichen Weisheit zum Trotz – glauben Sie, ich werde das nicht wahr machen?“

Die Frau am Geländer zuckte schweigend die Achseln, und Lucile knickte mit ihren matten, blassen Fingern nun auch ein paar Rosen sorgfältig ab, um sie in das Haar und an die Brust zu stecken.

„Schau, wie Dame Mercedes kokett zu Pferde sitzt!“ sagte sie, ohne den Kopf zu wenden, mit einem blinzelnden Seitenblick aus halbgeschlossenen Augen. „Nur schade, daß das der blöde, junge Hauslehrer vor lauter Respect nicht zu bemerken wagt! Wenn sie nur wüßte, wie schauderhaft ihr das blaue Reitkleid zu dem gelben Gesicht steht! Bah, sie hat nie Geschmack gehabt! Und in dem gräßlichen Reitcostüm steckt sie Tag für Tag – es sieht verwettert aus wie ein alter Commißrock. Aber das ist jetzt so ihre Marotte – sie spielt die Einfache. Mein Gott, warum nur? Die alten Stoffe werden aufgetragen bis auf den letzten Faden, und die Jungfer lamentirt, daß längst alle Schmucksachen bis auf den kleinsten Manschettenknopf weggeschlossen worden sind – lächerlich! Drüben war sie, wie alle diese protzigen Baumwollenprinzessinnen, stets aufgeputzt wie ein Schlittenpferd – die Augen thaten Einem weh vor lauter Brillantengeflinker, wenn man sie ansah. Will sie hier vielleicht auch Nonne werden, wie die odiöse Baronin Schilling?“

Die Majorin ging, ohne ein Wort der Erwiderung, behenden Schrittes die Terrasse entlang und stieg die breiten Mittelstufen hinab, den Heranreitenden entgegen. Sie zog einen Brief aus der Tasche und schwenkte ihn in der Luft.

Donna Mercedes trieb sofort mit einem leichten Gertenschlag ihren schönen Fuchs an und flog den Anderen weit voraus. Eine tiefe Gluth bedeckte ihr Gesicht, während sie hastig nach dem Briefe griff und das Couvert aufriß. Sie überflog die ersten Zeilen; dann bückte sie sich tief zu der Majorin herab und flüsterte mit vor Bewegung fast erstickender Stimme: „Baron Schilling kommt heute Abend aus Frankreich zurück.“

Unwillkürlich griff sie nach der Hand der alten Frau und hielt sie mit aufstrahlenden Augen und einem vielsagenden Druck einen Augenblick fest; dann steckte sie den Brief zu sich, wendete ihr Pferd, und mit einem freundlichen Gruß nach der mürrisch dreinschauenden kleinen Frau hinauf, jagte sie auf dem nächsten, durch den Wald führenden Wege der Stadt zu.




41.

Der kluge Fuchs trug seine Reiterin die Chaussee entlang, am Bahnhof vorüber, trabte da durch eine belebte Straße, dort über einen stillen Domplatz, und bog schließlich in die öde, zum Theil von Gartenmauern gebildete lange Gasse ein, in welche eine wohlbekannte Mauerthür mündete. Er machte fast täglich diesen Weg und wieherte stets freudig beim Einlenken in den Garten des Schillingshofes; denn er wußte, daß er da drinnen als Liebling cajolirt und gehegt und gepflegt wurde.

Die Thür stand, wie immer um diese Stunde, wo Donna Mercedes zu kommen pflegte, weit und gastlich offen. Mit stürmisch pochendem Herzen ritt sie in das grüne Fichtendämmern hinein – heute noch einmal war sie, wie die langen drei Jahre her, mutterseelenallein in Atelier und Garten; dann –

Der Stallbursche kam durch die Platanenallee gelaufen, um ihr vom Pferde zu helfen. Sein Gesicht strahlte, und nur mit Mühe verbarg er ein pfiffiges Schmunzeln.

„Ah – Sie wissen schon?“ sagte Donna Mercedes, als sie neben ihm auf dem Boden stand.

„Jawohl, gnädige Frau,“ versetzte er ehrerbietig. „Alles im Schillingshofe ist rein närrisch vor Freude, weil nun endlich die langweilige Wartezeit überstanden ist. Solch ein herrenloses Haus ist schrecklich.“

Er führte den Fuchs nach dem Stall, und Donna Mercedes blieb einen Augenblick auf dem Kiesplatz vor dem Atelier stehen und übersah das Gartenrevier, soweit sie vermochte. Ob er wohl zufrieden war mit ihrem Schalten und Walten?

Dort, auf dem Klostergut, wo früher die hinfälligen, dohlenumschwärmten Giebel, die zerbröckelnden Wände der Hintergebäude in häßlicher Verkommenheit über die Obstbaumwipfel geblickt hatten, erhoben sich jetzt schöne, neue Schieferdächer. Aber sie waren um ein beträchtliches Stück vom Säulenhause weggerückt – es gab keine gemeinsame Wand mehr zwischen Schillingshof und Klostergut, die einen spukhaften „Mäuseweg“ gestattet hätte.

Die Majorin hatte beim Verkauf des Klostergutes die Bedingung gestellt, daß der neue Besitzer sein Wohnhaus weit ab aufbauen müsse, und dafür den Kaufpreis um ein Bedeutendes ermäßigt – nur so kam die Schmach, die der letzte Wolfram auf sein altes, ehrenfestes Geschlecht geladen, allmählich in Vergessenheit.

Der nunmehrige Besitzer hatte sich auch herbeigelassen, Baron Schilling einen breiten Streifen des freigewordenen Terrains abzutreten. Damit fiel auch die hohe, verdüsternde Mauer, die einst die plebejischen Tuchweber von den Ritterlichen streng geschieden, und machte einem niedrigen hübschen, der Physiognomie des Säulenhauses entsprechenden Gemäuer Platz, an dessen Fuß nunmehr die jungen Aeste seinen Spalierobstes emporkletterten. Das herrliche italienische Haus reckte sich, nun auf allen Seiten von Licht und Luft umspielt, noch einmal so imposant in den blaßblauen deutschen Himmel. Im großen, hinter dem Säulenhause liegenden Garten aber schloß sich an die Mauer ein luftiges helles Stacket, das die beiden Grundstücke wohl trennte, aber nicht wie der ungeschlachte, struppige Zaun wüst und entstellend in die Anlagen hineinragte.

Alle diese Neuerungen hatte Donna Mercedes überwacht und geleitet. Baron Schilling hatte ihr brieflich seine Ideen und Absichten mitgetheilt, und sie war denselben möglichst treu und pünktlich nachgekommen. Langsam, mit kritisch musterndem Blick schritt sie jetzt auf dem Wiesenweg, der direct nach dem Säulenhause lief. Sie hatte die Reitschleppe um den Arm geschlungen und das Hütchen mit der weißen, wallenden Feder schützend in die Stirn gerückt.

Wohl war das Mädchengesicht auf der Elfenbeinplatte, das einst ein zärtlich stolzer Vater über das Meer geschickt, damit es sich deutsche Herzen erobere, von hinreißender Schönheit gewesen; auch die Frau, die vor drei Jahren in Trauergewändern den Schillingshof betreten, hatte die Augen geblendet durch ihre undinenhafte Erscheinung, allein ihre herrischen Geberden, ihr verschlossenes Wesen, der Eisesblick, den die großen, gebieterischen Augen hochmüthig über andere Mitgeschöpfe hingleiten ließen, hatten einen erstarrenden Hauch um sie verbreitet. Heute schritt das junge Weib, die südlich blaßgelbe Haut vom nordischen Hauch zu unvergleichlicher Blüthe und Frische gewandelt, voll unbeschreiblichen Liebreizes durch die Boscage und ließ den Blick ängstlich prüfend und in sichtlicher Beklommenheit über die Ostfronte des Säulenhauses hinschweifen. Ob auch Alles seinen Wünschen entsprach?!

Nur durch traute, gemüthliche Einfachheit wollte er ein „Familienheim“ beglückend finden. Und er hatte ja unbedingt Recht, vollkommen Recht, wie – in Allem. Nun, dort hinter den Fenstern des Oberbaues waren ja alle kostbarer Tüll- und Spitzengardinen verschwunden. Sie waren, in Kisten verpackt, nach Coblenz gewandert, um mit Allem, was „Steinbrückisch“, verauctionirt zu werden.

Keinen Leinenfaden, keinen Nagel in der Wand, von welchem sie nicht mit gutem Gewissen sagen konnte, daß es Schilling’scher Besitz sei, hatte Mamsell Birkner im Hause geduldet – sie hatte auf jede verirrte Flaumfeder, auf jedes werthlose Medicinfläschchen in den Zimmern der „Gnädigen“ Jagd gemacht und Alles pünktlich notirt und mit verpackt.

Baron Schilling hatte die selbstentworfenen Zeichnungen zu den neuen Meublements seines Heims und die Mittel zur Beschaffung derselben an „seine gute, alte Birkner“ eingeschickt; allein sie war halsstarriger Weise dabei verblieben, nicht ein Stück ohne Donna Mercedes’ Rath und Sanction anzukaufen. Und so hingen nun dort in den mächtigen Bogenfenstern einfarbige oder auch in buntem Teppichmuster leuchtende Wollgardinen, die in Ringen liefen. Es ließ sich nicht leugnen, jetzt erst verschärfte sich der Charakter des Bauwerkes, der eines

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 642. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_642.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)