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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

„Verbluten? Ohnmächtig?“ fragte der Arzt verwundert. „Da muß er doch eine Verletzung haben?“

„Und was für eine, Herr Bezirksarzt!“ versicherte der in Friedenszeiten ergraute Unterofficier. „So lang“ – dabei hielt er die Hände eine halbe Elle weit von einander.

„Wir haben aber doch bestimmt keine Wunde an ihm bemerkt,“ meinte Kern, der kraft seines Amtes mit dem Arzt rasch der Hauptwache zuschritt.

„Nein, gewiß nicht,“ erwiderte Doctor Ammann.

„Wo hat er denn die Wunde?“ fragte Kern.

„An dem Ballen der rechten Hand, Herr Amtsrichter.“

„Wo hat er sie sich denn geholt?“ fragte der Arzt weiter.

„Ja, wer das sagen könnte!“ meinte der Unterofficier.

„Also auf der Hauptwache nicht?“ fragte Kern.

„Da gewiß nicht. Und unterwegs, so lange er in den Händen der Wache war, gewiß auch nicht.“

Sie waren jetzt in das Local der Hauptwache eingetreten.

Auf einem Stuhl, neben dem Pult des Wachtmeisters, lag King, Arme und Beine steif von sich gestreckt, den Kopf zurückgesunken, blaß, kaum athmend, besinnungslos. Unter seinem Stuhl befand sich eine große Blutlache.

Der Arzt erfaßte seine rechte Hand und besichtigte die Wunde, ohne daß der Patient etwas davon zu merken schien.

„Unerklärlich,“ sprach er leise zu Kern. „Zwei Zoll lang, einen Viertelzoll breit, über einen halben Zoll tief. Ich werde die Wunde nähen. Da wird er zu sich kommen und uns das Wunder zu erklären versuchen.“

Es geschah so, wie der Arzt erwartet hatte. Die Wunde war nahezu fertig genäht, als King zusammenzuckte und die Augen aufschlug. Er schien sehr matt, aber er lächelte. Es war ein etwas boshaftes Lächeln, wie Kern zu bemerken glaubte.

„Was soll das bedeuten, King?“ fragte der Amtsrichter streng. „Woher haben Sie die Wunde? Vorhin, als wir Sie untersuchten, waren Sie entschieden unverwundet.“

„Meinen Sie?“ fragte er leise und wieder lächelnd. „Ein Glas Wasser! Bitte, Wasser!“ rief er plötzlich.

Er stürzte es hinab, sowie der Wachtmeister es ihm gereicht.

„Wir meinen das nicht,“ entgegnete der Arzt, „Wir wissen das bestimmt.“

„So?“ fragte King fast spöttisch. „Sahen Sie denn da auch, daß ich ein großes Stück fleischfarbenes englisches Pflaster hier auf die Wunde geklebt hatte?“

„Nein, das sahen wir freilich nicht, Herr King,“ rief entrüstet der Arzt. „Aber aus dem einfachen Grunde nicht, weil die Wunde damals noch nicht existirte, und demnach auch kein Pflaster darauf lag.“

„Würden Sie das zu beschwören wagen, Herr Bezirksarzt?“

„Ja, gewiß. Aber ich will Ihnen noch etwas sagen. Es – wäre geradezu unmöglich gewesen, daß Sie eine Wunde, die Ihnen hier auf der Wache, das heißt etwa eine halbe Stunde nach unserer Untersuchung, einen so gewaltigen Blutverlust zuzog, mit englischem Pflaster hätten verkleben können.“

„Und doch ist es so, Herr Bezirksarzt.“

„King,“ sagte der Richter ernst und würdig, „Ihre neue Wunde da soll die Antwort sein, die Sie mir vorhin verweigerten: die Erklärung der Blutspur vom Mordkeller bis in Ihre Schlafkammer, nicht wahr?“

„Nein, Herr Amtsrichter. Diese Wunde“ – und dabei hob er die Hand betheuernd empor – „soll nicht blos die Erklärung für jene Blutspur sein, sondern sie ist es – sie wird es sein im Auge jedes unparteiischen Richters. Das sage ich auf Ihre Frage. Und dem Herrn Doctor erwidere ich, daß ich absichtlich den Klebstoff abgerissen, um zu beweisen, daß die Blutspur aus dieser Wunde entstanden sei.“

„Aber wie haben Sie sich dieselbe nur zugezogen?“ fragte Doctor Ammann.

„Als ich im Dunkeln hinuntereilte auf den Lärmruf der Lehrlinge, stieß ich mit der Hand gegen den scharfen Nagel, der am Ausgang des oberen Treppengeländers sich befindet, und da ich gleichzeitig stürzte, riß ich mir den Ballen auf.“

„Sie haben viel Glück bei Ihren Unglücksfällen, King,“ warf Kern trocken ein. „Warum gaben Sie uns denn vorhin nicht diese ganz unverfängliche Erklärung Ihrer Wunde?“

„Nun, Herr Amtsrichter, das will ich Ihnen offen sagen. Vorhin hätten Sie aus dieser Wunde, bei Ihrer Eingenommenheit gegen mich, nur wieder neues Material für die Anklage zu gewinnen versucht. Sie hätten gesagt: diese Wunde muß ihm Herr Wolf bei dem – von Ihnen angenommenen – Kampfe beigebracht haben.“

„Meinen Sie?“ fragte Kern achselzuckend. „Sie sollen sehen, daß Sie Unrecht haben; ich will annehmen, Sie hätten sich die Wunde schon beim Hinabeilen zugezogen, an der oberen Treppe. Wie kommt denn da die Blutspur in Ihr Schlafzimmer, in die Lehrlingskammer, auf den Vorsaal vor der Treppenspitze?“

„Sehr einfach; bei meinem Rückweg. Ich legte gleich das Pflaster auf, als ich den Schmerz fühlte. Es platzte auf bei der Anstrengung, als ich die Leiche trug, ohne daß ich’s bemerkte. Beim Waschen in meiner Kammer merkte ich, daß die Wunde von neuem offen sei, und verklebte sie abermals.“

„Sie hatten sich recht gut mit Pflaster versehen,“ warf der Arzt ein. „Aber ich bleibe dabei, daß Sie die Wunde, als ich Sie untersuchte, nicht hatten, daß ein Pflaster den Blutverlust nicht gehemmt hätte, daß Sie den Schmerz und den bedeutenden Blutverlust gerade dieser Wunde nicht hätten verheimlichen, daß Sie endlich bei solchem Schmerz nicht ruhig hätten schlafen können – und schlafend fanden wir Sie doch, als wir in Ihr Zimmer traten.“

King wollte etwas erwidern, aber er gab nur unarticulirte Laute von sich. Seine Züge verzogen sich krampfhaft; er mußte sehr schwach geworden sein durch das Entweichen von so viel Lebensstoff. Er sank abermals ohnmächtig in den Stuhl zurück.

„Sehen Sie, daß ich Recht habe?“ sagte der Arzt. „Wenn er die Wunde ungenäht solange trüge, wie er behauptet, er wäre schon lange zu Wort und Gedanken unfähig gewesen.“

„Bringen Sie ihn in Untersuchungshaft im Gerichtsgebäude nebenan!“ befahl Kern. „Für heute ist die Fortsetzung der Erörterungen unmöglich.“ –

Auch die folgenden Tage zeigte King große Ermattung und Erschlaffung und konnte längeres Verhör nicht aushalten.

„Er will Alles hinterhalten und über jede Frage und Antwort lange nachsinnen,“ meinte Kern.

Der Bezirksarzt versicherte aber, daß dies nicht Verstellung, sondern eine natürliche Folge des starken Blutverlustes sei.

„Ihr Mediciner faßt die Sache immer zu materialistisch,“ entgegnete Kern, „und seid dadurch nicht selten, allerdings unfreiwillig, wie ich gern anerkenne, die besten Bundesgenossen der Herren Verbrecher. Unser Mann hat seine fünf Sinne stets beisammen, so lange es ihm in sein Vertheidigungssystem, in seine Betheuerung vollständiger Schuldlosigkeit hineinpaßt. Sowie er Rede und Antwort stehen soll auf unangenehme Fragen und Indicien, schickt er sich an, wieder ein Bischen ohnmächtig zu werden.“

Der Untersuchungsrichter hatte wohl nicht ganz Unrecht mit seinen Bemerkungen. Denn in der That hatten die Nachforschungen, welche in Abwesenheit King’s am Tage nach seiner Verhaftung stattgefunden, ein ihm wenig günstiges Ergebniß geliefert.

In King’s Schlafzimmer war in einem bestaubten und verschimmelten Stiefel ein von Blut starrendes Taschentuch gefunden worden, das sich durch die gestickten rothen Buchstaben und die Vergleichung mit den andern Taschentüchern in King’s Kommode entschieden als dessen Eigenthum auswies. Dieses Taschentuch zeigte an vielen Stellen hellere, blaßrothe, verwischte Flecken, welche nach der Meinung des Bezirksarztes daher rührten, daß das Tuch dem unglücklichen Wolf nach den ersten Stichen vom Mörder in Mund und Hals gestopft worden sei, um den Kampf zu verkürzen und einen lauten Schrei oder die Namensnennung des Mörders zu verhindern. Dieser Vermuthung entsprach auch der äußere Befund der Leiche. Einige Hautverletzungen am Halse wiesen darauf hin, daß Wolf zuerst am Halse gepackt und gewürgt worden sei.

Ein viel wichtigerer Fund wurde aber noch gemacht, ehe Wolf’s Körper der Erde übergeben worden war.

(Fortsetzung folgt.)



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