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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

unbarmherzig wehrte und dadurch die Parteien nöthigte, Thatsachen, welche oft erst in zweiter oder dritter Linie, nach Beseitigung verschiedener Voraussetzungen, wirksam waren, schon im Anfangsstadium vorzubringen, falls sie nicht für sie unwiederbringlich sollten verloren gehen. Heute hat das neue Verfahren mit dieser juristischen Technik (der sogenannten Eventualmaxime) fast vollständig gebrochen und sich dafür auf den Boden praktischer Zweckmäßigkeit gestellt. Es gestattet den Parteien Einwendungen und Vertheidigungen, sowie neue Beweismittel auch noch in einem späteren Stadium des Processes, ja selbst nach bereits verkündetem Urtheile, noch in der Berufungsinstanz vor- oder nachzubringen. Nur wehrt es in der letzteren einer Verbesserung und Veränderung der Klage, da diese den Grundstein des ganzen Processes bildet. Um indeß damit nicht eine böswillige Verschleppung des Processes zu begünstigen, erlaubt das Gesetz dem Gerichte, die durch die verspätete Vorbringung entstandenen Kosten der Partei aufzulegen, wenn sie nicht gehindert war, die Thatsache früher vorzubringen.

Ebenso kann der Richter den ihm vorgetragenen Proceßstoff in einer ihm angemessen scheinenden Weise sichten und aus einander trennen und z. B. über einen Theil der klägerischen Ansprüche, der bereits zum Urtheile reif oder durch Anerkenntniß oder überhaupt gar nicht mehr bestritten ist, besonders entscheiden.

Auch die alte Zerlegung des Verfahrens in zwei abgesonderte Hälften, von denen die erste der gegenseitigen schriftlichen Auseinandersetzung gewidmet war, gleichsam den Proceßstoff zusammentrug, während die andere mit dem Beweise desselben sich beschäftigte und zu diesem Behufe den ganzen Stoff, soweit er strittig war, zum zweiten Mal zu Papier brachte, hat das neue Verfahren glücklich vermieden und mit ihr auch die Ertheilung eines besonderen, der Berufung zugängigen Beweisbescheids überflüssig gemacht.

Was unsere Rechtspflege beim proceßführenden Publicum besonders in Mißcredit zu bringen geeignet war, der Wechsel der Entscheidungen in den verschiedenen Instanzen, wurde gleichfalls durch das schriftliche Verfahren und das Festhalten an der oben geschilderten Eventualmaxime vielfach begünstigt. Auch das ist anders geworden. Die Grundsätze der Oeffentlichkeit und Mündlichkeit sind auch für das Verfahren der Berufungsinstanz festgehalten. Dasselbe erscheint nicht mehr als ein blos kritisches, nachprüfendes, sondern als eine Erneuerung des Processes vor andern Richtern.

So bekundet sich in dem neuen Proceßverfahren überall das sichtliche Bestreben, dem wirklichen, tatsächlichen Recht zu Ungunsten des blos formalen zum Siege zu verhelfen.

Die Vollstreckung der Hülfe, mindestens soweit sie eine reale ist, weist die neue Gesetzgebung besonderen Organen zu, dem für die meisten deutschen Gebiete neuen Institute der Gerichtsvollzieher. Auch hierin zeigt sich das Bestreben, die richterliche Stellung rein und frei zu halten; diese Schlußhandlung der processualen Thätigkeit des Richters entbehrte, wenn sie auch in ihrer letzten Consequenz nicht dem Richter selbst anheim fiel, bisher in der Meinung des Volkes doch nicht ganz des Gehässigen. Ebenso wurde die Vollstreckung der Strafen von den richterlichen auf die Behörden der Staatsanwaltschaft übertragen.

Im Strafverfahren findet sich ein großer humanistischer Gedanke besonders in der Bestimmung vertreten, daß der Angeschuldigte in jeder Lage des Verfahrens, also auch schon im Stadium der Voruntersuchung, sich eines Vertheidigers bedienen kann, mit welchem er sowohl mündlich wie schriftlich verkehren darf, daß ihm seiner ebenso wenig die Theilnahme an einem Augenscheine (Besichtigung des Schauplatzes der That) wie an der Vernehmung der Zeugen, und zwar auch der nicht in der Hauptverhandlung erscheinenden, versagt ist.

Im Concursverfahren ist dem Gesammtwillen der Gläubigerschaft eine größere selbstständige Mitwirkung eingeräumt, als dies seither im gemeinen und sächsischen Concursprocesse der Fall war, wo die Gläubigerschaft immer nur durch den gerichtlich bestallten Concursvertreter zum Worte kam.

Die Heranziehung von Laien zur richterlichen Thätigkeit wurde namentlich Seitens der Fachmänner vielfach bekämpft. Sie hat deshalb keine durchgehende grundsätzliche Berücksichtigung gefunden. Man will hier erst die Erfahrung reden lassen. Die Mitwirkung der Laien bei den Schwurgerichten, als ein getrennt vom fachmännischen Richterstande für sich selbstständig die Schuldfrage erörternder Körper, ist beibehalten. Daneben ist in den Schöffengerichten, die sich aus zwei Laien (Schöffen) und einem Amtsrichter als Vorsitzendem zusammensetzen, eine Vermischung des juristischen und Laienelements eingetreten, wogegen bei den Landgerichten die dahin gehörenden Strafsachen von fünf juristisch gebildeten Richtern abgeurtheilt werden.

Da, wo bei den Landgerichten besondere Handelskammern abgezweigt werden, bilden sich dieselben aus einem Mitgliede des Landgerichts und zwei dem Kaufmannsstande angehörenden, im Bezirke wohnenden Handelsrichtern, welche gemeinsam über Handels- und Wechselsachen urtheilen, sofern die klagende Partei den Proceß dort geführt haben will.

Auch zur Bildung eines von zwei Streittheilen gewünschten Schiedsgerichtes behufs gütlicher Austragung ihres Streites können Laien ausersehen werden. Außerdem bleibt es der particularen Gesetzgebung überlassen, in jedem Orte einen Laien als Schiedsmann, Friedensrichter u. dergl. m. zur Vermittelung von Differenzen, namentlich Beleidigungen, anzustellen.

Ob die neuen Gesetze den auf sie gestellten Hoffnungen entsprechen, ist zuletzt nur eine Frage der Zukunft. Das alte Erbtheil der Unvollkommenheit und des Irrthums, das allen Kundgebungen des Menschengeistes anhängt, wird auch ihnen nicht erspart geblieben sein. Zu einer gedeihlichen Wirkung ist aber das Eine nöthig, daß den Vorlagen volles unbefangenes Vertrauen entgegengebracht wird, sowohl auf Seiten der Gebenden wie der Empfangenden, der Richter wie des Publicums.

Zur Befestigung dieses Vertrauens und als Schlußstein unserer Skizze wollen wir an die bedeutsamen Worte erinnern, mit welchen unser Kaiser die Verabschiedung der Gesetze am 23. December 1876 begleitete: „Durch die stattgehabte Verabschiedung der Justizgesetze,“ sagte er, „ist die Sicherheit gegeben, daß in naher Zukunft die Rechtspflege in ganz Deutschland nach gleichen Normen gehandhabt, daß von allen deutschen Gerichten nach denselben Vorschriften verfahren werden wird. Wir sind dadurch dem Ziele der nationalen Rechtseinheit wesentlich näher gerückt. Die gemeinsame Rechtsentwickelung aber wird in der Nation das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit stärken und der politischen Einheit Deutschlands einen innern Halt geben, wie ihn keine frühere Periode unserer Geschichte aufweist.“

Fr. Helbig.




Aus vergessenen Acten.

Eine Criminalgeschichte von Hans Blum.

(Fortsetzung.)


„Ziehen Sie doch einmal diese Beinkleider an!“ sagte der Amtsrichter.

King gehorchte.

„Herr Doctor, es ist doch merkwürdig, daß die löcherartigen Schürfungen im Stoff genau an den Stellen sich befinden, wo die rothbraunen Flecke an den Schenkeln King’s sich zeigen – wie?“

Der Doctor nickte zustimmend.

„Sehen Sie, wenn Sie nun Unterbeinkleider trügen, Herr King, so könnten die Schürfungen im Stoff auch von Hammerschlägen herrühren, wie die Flecke,“ sagte Kern lächelnd. „So aber müssen wir nach einer anderen Erklärung suchen.“

„Und nach welcher?“ fragte King sehr ruhig.

„Nun, wir haben unten an den Nägeln des Ermordeten Fasern ganz des nämliche Stoffes gefunden, wie dieser hier ist.“

„Das möchte ich erst einmal sehen,“ fuhr King auf.

„Dazu wird Ihnen Gelegenheit geboten werden.“

„Und dann trägt alle Welt hier solche Unterhosen.“

„Ich sehe den Stoff zum ersten Mal,“ entgegnete Kern.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 618. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_618.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)